Weihnachten im Böhmischen Paradies

Die Reise ins Böhmische Paradies beginnt am Hauptbahnhof in Prag, dem wahren Eisenbahnherz des Landes. Der Schnellzug in Richtung Hradec Králové ist gut gefüllt. So wie immer, nicht nur in der Weihnachtszeit. In Nymburk sieht man aus dem Zugfenster die Brauerei, in der Bohumil Hrabal aufgewachsen ist. Kurz danach überqueren wir die Elbe und gleiten weiter durch das Flachland von Mittelböhmen. Immer wieder sieht man einen Weihnachtsbaum am Bahnsteig stehen. Eine kleine Fichte. Eine Tanne. Eine Kiefer. Die Bahnhöfe werden kleiner, die Züge, in die man umsteigt, immer langsamer und kürzer. Zum Schluss genügt für die letzten Kilometer nach Lomnice nad Popelkou, in den alten Kursbüchern auch Lomnitz an der Popelka, ein kleiner Triebwagen. Die Eisenbahner nennen ihn Brotbüchse. Genauso sieht er auch aus.

Die Brotbüchse fährt fast im Schritttempo durch das Český ráj, durch das Böhmische Paradies, wie die Gegend heißt. Vielleicht wegen der vielen Burgen und Schlösser? Wegen der Felsenstädte? Niemand kennt die Antwort. Der Schaffner, mehr breit als hoch, wünscht den Fahrgästen frohe Weihnachten. Er kontrolliert die Fahrscheine und fängt an, sich mit einem Mann zu streiten, einem Rangierer.

Es geht nur kurz darum, wer im Januar nach Miloš Zeman der nächste Präsident des Landes wird. Wird es der bei der älteren Generation beliebte Populist Andrej Babiš oder der ehemalige Armeegeneral Petr Pavel, ein Kandidat der bürgerlichen Mitte, der vielleicht die Risse und Wunden in der Gesellschaft überbrücken könnte? Oder vielleicht endlich eine Frau? Danuše Nerudová, die in den Umfragen die jungen linksliberalen Wähler begeistert? Doch dann wird der Streit im Zug nach Lomnice bitterernst. Denn jetzt geht es um etwas, das uns Böhmen vielleicht noch heiliger ist als unser Bier. Um den einzig richtigen Kartoffelsalat am Heiligabend.

„Ich mache ihn immer mit Salami“, sagt der Rangierer.

„Die Wurst mag meine Frau nicht“, sagt der Schaffner. „Wir futtern schon zu viel Fleisch, sagt meine Frau immer.“

„Es ist doch Weihnachten. Da darf man nicht verhungern.“

„Und statt Mayonnaise nimmt sie jetzt Joghurt. Sie macht sich Sorgen um mein Herz.“

„Ein Salat ohne Mayo? Das geht doch gar nicht.“

„Doch.“

„Das ist kein Kartoffelsalat. Da esse ich lieber altes Brot und Speck.“

„So schlecht schmeckt es nun auch wieder nicht.“

„Manchmal bin ich froh, dass ich alleine bin. Zu Weihnachten sollte man sich nicht streiten.“

„Ja, das sage ich auch immer zu meiner Frau. Und zu meiner Tochter und dem kleinen Bengel auch: Es ist Weihnachten, lasst uns nicht streiten so wie sonst immer.“

„Und?“

„Nach einer Stunde kracht es wieder. Dann gehe ich in die Garage, mach mir ein Bier auf, schaue in den Garten und höre die Weihnachtslieder im Radio. Manchmal gehe ich auch schon vorher dorthin.“

Der Zug hält kurz an und fährt gleich weiter. Bis nach Lomnice bleibt die blauweiße Brotbüchse der Popelka treu, wie der kleine Bach im Tal heißt, was man vielleicht ins Deutsche als Aschbach übersetzen könnte. Popelka ist auch der Name der bekanntesten Märchenfigur der tschechischen Filmgeschichte. Der tschechisch-deutschen Filmgeschichte wohlgemerkt, weil der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, auf Tschechisch „Tři oříšky pro Popelku“, von Václav Vorlíček 1973 als Koproduktion zwischen der Tschechoslowakei und der DDR entstanden ist.

Wenn es um Popelka geht, da streiten wir Tschechen uns nicht. Wir lieben dieses Märchen, genau wie die Deutschen oder Norweger. Vor allem lieben wir alle Libuše Šafránková, die Popelka spielte. Die Schauspielerin weilt leider nicht mehr unter uns.

„Als Popelka gestorben ist, habe ich geweint“, sagt der Rangierer.

„Ich auch“, sagt der Schaffner. „Ich dachte, Popelka sei unsterblich.“

„Das ist sie auch . . . Und was für eine Suppe gibt es bei euch am Heiligabend?“

„Erbsensuppe. Tradition ist Tradition.“

„Ich koche immer Fischsuppe – aus dem Karpfenkopf. Ich kaufe einen Extrakopf dazu. Zwei Köpfe sind besser als nur einer. Auch wenn du allein bist.“

Wir fahren. Die Brotbüchse, in der wir sitzen, ist mehr als vierzig Jahre alt. Und doch funktioniert sie einwandfrei.

„Den Weihnachtsbaum schmücken wir zusammen, aber den Tisch deckt immer nur meine Frau. Es wird nicht nur für die Familie gedeckt, sondern auch für einen Gast, für einen Fremden, der vielleicht unterwegs ist und eine Zuflucht sucht.“

„Das mache ich auch. Ich sitze dann allein am Tisch und schaue auf den leeren Platz mir gegenüber. Dann zünde ich die Kerzen an für alle Toten, die ich kenne. Es werden immer mehr. Auch für unsere Popelka zünde ich eine Kerze an.“

„Komm doch mal zu uns am Heiligabend. Zu Weihnachten sollte niemand allein sein.“

„Ich weiß. Doch ich mag es so. Stell dir vor, jemand würde doch vorbeikommen. Ein Wanderer, ein einsamer Fremder. Oder eine Fremde. Eine Popelka. Und ich wäre nicht da.“

„Das wäre traurig.“

„Ja, das wäre traurig.“

Die Brotbüchse ächzt in den kurzen scharfen Kurven der Bahnstrecke, und der Rangierer macht seine eigene Brotbüchse auf. Er bietet dem Schaffner seine Weihnachtsplätzchen an. Und auch den anderen Reisenden, so wie man es in Böhmen macht.

In der Brotbüchse auf Rädern sitzen auch zwei Frauen, die Ukrainisch sprechen und von dem Gebäck kosten. Sie werden Weihnachten hier verbringen, so wie die fast vierhunderttausend Geflüchteten aus der Ukraine, die Tschechien aufgenommen hat. Die beiden jungen Frauen bleiben im Böhmischen Paradies. Mit ihren Kindern, aber ohne ihre Männer. Denn die Männer sind in der Ukraine geblieben und verteidigen ihr Land.

Eine Frau kommt aus Lwiw. Sie hat auf ihrem Handy eine Luftalarm-App installiert. Sie kann sie nicht abschalten; sie hat viele Freunde und Verwandte in Lwiw. Sie erzählt, dass ihr Handy manchmal mehrmals am Tag klingelt, oft in der Nacht, wenn die russischen Raketen Richtung Lwiw unterwegs sind. „Weihnachtsgeschenke aus Russland ,“ sagt die Frau. Am liebsten würde sie die Geschenke unausgepackt gleich wieder zurück nach Moskau schicken. In den Kreml.

Die Weihnachtsplätzchen schmecken wirklich köstlich.

„Das verstehe ich nicht“, sagt der Schaffner, „du lebst allein, keine Frau weit und breit. Und du machst das beste Weihnachtsgebäck, das ich jemals gegessen habe. Die besten Linzer Augen.“

„Tja, ein Weihnachtswunder“, sagt der Rangierer.

„Die Linzer Augen bringen uns in Mitteleuropa zusammen so wie die Eisenbahn“, sagt ein anderer Reisende, ein junger Mann. „Die Linzer Augen haben wir von der Monarchie geerbt so wie auch unser dichtes Eisenbahnnetz. Gut, dass man in Tschechien überall mit der Eisenbahn hinkommt, nicht wie in Deutschland.“

Die Eisenbahner nicken zufrieden.

Der junge Mann hat in Prag studiert und gelebt. Und dann in Dresden als Programmierer gearbeitet. Jetzt wohnen er und seine Frau wieder in Lomnice. Das Leben auf dem Land zieht gerade viele seiner Freunde aus der Großstadt an. In einer böhmischen Kleinstadt wie Lomnice muss man nicht auf das Stadtleben verzichten. Wir haben dort ein Eishockeystadion, ein großes Theater mit vielen Gastspielen und Konzerten und auch ein modernes und gut besuchtes Kino mit Dolby Atmos und einem Café.

Der Kaffee wird wie vor hundert Jahren aus Triest, aus dem Kaffeehafen der alten österreichischen Monarchie, geliefert. Wenn man möchte, kann man in Lomnice kurz nach fünf den ersten Zug nehmen, und am Abend kurz nach acht ist man in Triest an der Adria. Nach Wien sind es nur ein paar Stunden. Nach Dresden auch. Und nach Prag sowieso. Auch eine Brauerei schmückt Lomnice und gleich mehrere Wirtshäuser. Ärzte sind auch vorhanden, die Schule wurde gerade saniert. Das alles bei nur fünftausend Einwohnern. „Eine ähnlich große Stadt in Sachsen wäre längst tot“, sagt der junge Mann.

Und dann schweigen wir kurz und lassen uns durch den späten Nachmittag schaukeln. Die Sonne steht schon tief am Horizont. Die Bäume werfen lange Schatten auf den Schnee. Es dämmert.

„Wie gesagt, um den Tisch kümmert sich am Heiligabend meine Frau“, sagt der Schaffner. „Und ich kümmere mich um das Beil.“

„Um das Beil?“, fragt der Rangierer.

„Ja, unter dem Tisch muss doch ein Beil liegen, damit nächstes Jahr niemand in der Familie umgebracht wird. Und auch ein Schlüsselbund, damit das Haus nicht ausgeraubt wird.“

„Wo hast du denn das her?“

„So hat es schon mein Großvater gemacht“, sagt der Schaffner. „Machst du das etwa nicht?“

„Nein! Nie. Bei mir herrscht Ruhe zu Weihnachten. Ich lege nur ein paar Karpfenschuppen unter den Teller, damit man im nächsten Jahr Glück und ein wenig Geld in der Börse hat.“

„Klar, das machen wir auch.“

„Aber das Beil? Das Christkind kriegt Angst, wenn es das Beil sieht. Und läuft mit den ganzen Geschenken zu mir rüber. Und vorher fackelt es noch den Weihnachtsbaum ab.“

„Bis jetzt hat uns das Christkind immer Geschenke gebracht“, sagt der Schaffner. „Das Christkind hat nie Angst. Das Christkind hat doch auch die Kommunisten besiegt, als sie in den Fünfzigerjahren versucht haben, es durch Väterchen Frost zu ersetzen. Einem Befehl aus Moskau folgend. Unser Christkind hat den russischen Greis hinter den Ural vertrieben. Das Christkind würde auch Putin besiegen. Und vielleicht macht es das auch noch. Das wäre das schönste Weihnachtsgeschenk, das sag ich dir.“

„Und was macht ihr sonst noch so?“, fragt der Rangierer.

„Alles ganz normal. Am Tisch darf am Heiligabend nur meine Frau bedienen, niemand sonst darf aufstehen. Wer aufsteht, fällt tot um, sagt meine Frau. Aber letztes Jahr habe ich mir ein Bier aus dem Keller geholt, und wie du siehst, bin ich immer noch am Leben.“

Wir fahren, und der junge IT-Ingenieur sagt: „Obwohl wir Tschechen ähnlich gerne über die Eisenbahn schimpfen wie die Deutschen, bleiben wir der Eisenbahn treu. Wir lieben die Züge. Seit Jahren fahren in Tschechien die Züge nach einem Taktfahrplan, und auch heute noch haben die kleinsten Gemeinden einen Bahnanschluss. Und wohin die Züge nicht fahren, da fahren Busse hin, auch im Takt. Alles nach Schweizer Vorbild. Ein Märchen.“

„Einmal habe ich sie im Zug getroffen, die Popelka“, sagt der Schaffner und schaut aus dem Fenster. „Ich dachte, ich sei ein wenig eingenickt, es sei ein Traum. Aber sie war es. Libuše Popelka.“

„Wann war das?“

„Etwa vor einem Jahr.“

„Aber da war sie doch schon tot.“

„Ich habe sie trotzdem gesehen, so wie ich dich jetzt sehe. Sie war nach Trutnov im Riesengebirge unterwegs. Ich habe ja ihre Fahrkarte kontrolliert. Zweite Klasse, ohne Ermäßigung, das weiß ich bis heute.“

„Und hat sie dir was erzählt?“

„Nein.“

Wir halten kurz an. Und fahren gleich weiter. Auf einer Brücke überquert die Bahntrasse den Bach, die Popelka. Und die Eisenbahner setzten die kulinarische Auseinandersetzung fort. Die fast philosophische Frage des Kartoffelsalats wurde schon geklärt. Aber was wird der Hauptgang sein? Karpfen oder feine dünne Weinbratwurst?

„Natürlich wird Karpfen serviert. Tradition ist Tradition“, sagt der Schaffner.

„Gut.“

„Aber meine Frau mag Karpfen nicht, sie macht sich ein Schnitzel. Meine Frau hat Angst, dass sie stirbt, wenn sie eine Gräte verschluckt.“

„Am Heiligabend sollte man nicht sterben. Schlimm genug, dass der Karpfen sterben muss, wie ein Märtyrer.“

„Eben.“

„Aber ich kenne niemanden, der wegen einer Gräte im Hals gestorben ist. Der Karpfen muss sein.“

„Sage ich auch. So wie das Beil unter dem Weihnachtstisch. Tradition ist Tradition. Aber sag das mal meiner Frau.“

Ja, der Schaffner hat recht. Tradition ist Tradition. Morgen ist Heiligabend. Schon zu Mittag treffen wir uns alle auf unserem Friedhof, eine neue Tradition. Der Glockenturm ist nach der Brauerei das älteste Gebäude der Stadt, das alle Stadtbrände überstanden hat. Morgen Mittag werden die Glocken läuten, wir werden Weihnachtslieder singen und mit Grog, Punsch und Bier auf Weihnachten, Ruhe und Frieden anstoßen. Und auf unsere Toten, die hier überall liegen. Dann gehen wir nach Hause, freuen uns auf den Kartoffelsalat mit oder ohne Salami und auf den Karpfen oder die Weinbratwurst oder auf beides. Und später sehen wir uns in der Kirche in der Christmette, und der Pfarrer wird wieder ein wenig über uns herziehen und schimpfen, dass wir nur am Heiligabend in die Kirche kommen. Und später treffen wir uns alle in der Kneipe, die auch am Heiligabend offen hat. Auch die beiden Eisenbahner werden dabei sein, denn sie haben am Heiligabend frei.

Lomnice nad Popelkou. Endstation. Weiter über den Berg fährt nichts mehr. Wir steigen aus. Der Bahnhof ist eingeschneit, wie in einem Märchen. Der Fahrdienstleiter, auch er mehr breit als hoch, der Schaffner und auch der Rangierer stehen am Bahnsteig und zünden sich Zigaretten an. Sie rauchen und stehen still am Weihnachtsbaum. Wie die drei Heiligen. Wie drei Eisenbahnkönige, die auf ihre Popelka warten.

Jaroslav Rudiš, Jahrgang 1972, ist tschechischer Schriftsteller und Dramatiker, der auf Tschechisch und Deutsch schreibt. Er lebt in Berlin und Lomnice nad Popelkou. Zuletzt erschienen sind: „Durch den Nebel“, drei Erzählungen über das Erzählen und „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“.

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