Brutalismus mit Retro-Logo

Unerfreuliches kann manchmal unbeabsichtigt positive Wirkungen entfalten. Als man 2019 in Vinohrady das 1978 erbaute Transgas-Gebäude, eines der bemerkenswertesten Werke des Prager Brutalismus, abriss, hinterließ das eine schwärende Wunde im Stadtbild (wir berichteten hier). Auch scheint der Investor, der hier eine neue Büro- und Wohnanlage bauen wollte, noch immer nichts getan zu haben, um die unschöne Baulücke zu schließen. Immerhin – sozusagen als kleiner Trost – wurde durch die Kahlstelle ein anderes brutalistisches Gebäude sichtbarer gemacht, das bisher eine Art Schattendasein fristete: Der Hauptsitz der Weltgewerkschaftsorganisation (Sídlo Světové odborové organizace) in der Vinohradská 365/10,

Das Gebäude, das wir jetzt so klar vor uns sehen, entstand im selben Jahr wie das Transgas, nämlich 1978. Der Weltgewerkschaftsorganisation (wir erwähnten sie bereits hier), der hier damals einzog, war natürlich keine Gewerkschaftsorganisation wie wir sie kennen, Im Jahre 1949 hatten die Gewerkschaften der demokratischen Länder als Internationaler Bund Freier Gewerkschaften abgespalten, sodass hier in Prag nur noch kommunistische Scheingewerkschaften repräsentiert wurden. Die Mitglieder der Weltgewerkschaftsorganisation waren keine Vertreter der Arbeiterklasse, wie sie vorgaben, sondern Erfüllungsgehilfen der von oben dirigierten Staats- und Planwirtschaft. Die Organisation, die zunächst in Paris residiert hatte, zog daher 1949 ins bereits kommunistische Prag um. In den 1970er Jahren brauchte man eine neue und moderne Zentrale. Rechtzeitig zum Nächsten Weltkongress, der im April 1978 in Prag stattfand, wurde das Neue Gebäude feierlich eröffnet.

Die Pläne für das Gebäude stammten vom Architekten Alexej Peták, über den sich wenig herausfinden lässt, außer dass er führend für das Projektinstitut der ČKD (ČKD Projektový ústav) arbeitete, dem Architekturbüro des damals noch staatlichen Maschinenbaukonzerns ČKD (das 1990 privatisiert wurde, aber 1994 in den Konkurs ging). Peták hatte bei seinen Planungen durchaus keine leichte Aufgabe vor sich. Es handelte sich um ein sher schmales und langes Grundstück, das eingezwängt zwischen zwei anderen modernen Gebäuden lag. Seine Lösung des Problems war geschickt. Er nutzte das neue Gebäude als eine Art Abschluss für die östlich angrenzende Zentrale des  Tschechischen Rundfunks (Český rozhlas). über den wir hier berichteten – ein funktionalistisches Haus aus den späten 1920ern. Da der Sitz der Gewerkschaftsorganisation sich jetzt die fensterlose Seite (bisher ein ausgesprochener Mangel im Stadtbild) des Rundfunkhauses schmiegte, lockerte er dessen Fassade auf und vollendete sie mit ihren riesigen Goldfarbig getönten Ganzglaswänden. Das kann man heute, da das westlich anschließende Transgas-Gebäude abgerissen wurde, sogar besser erkennen.

Auf der anderen Seite (westlich) versuchte der Architekt, seine Pläne in die des ungleich größeren und architekturhistorisch wichtigeren Transgas-Gebäudes einzugliedern. Einige ästhetische Elemente sind identisch angepasst, etwa die für Transgas zu typischen pipeline-förmigen Geländer an der Seitenpassage. Ansonsten aber versucht das Gebäude zwischen seinen Nachbarn zu vermitteln und verfügt daher um ein ruhigeres Design als es beim sehr effektvollen und avantgardistischen Transgas-Gebäude der Fall war. Trotzdem kann man dem Design seine Originalität nicht ganz absprechen. Dazu gehört, dass die Etagen sich bis zur mittleren Höhe erweitert, um dann oben wieder zurückgeführt zu werden. Die Nutzaufbauten auf dem Dach geben dem Gebäude die authentische brutalistische Note. Wie gesagt: Wirklich erkennen kann man das erst mit dem Fortfall des Trangsgas-Gebäudes. Und wie ging die Geschichte des Hauses weiter?

Der Kommunismus landete 1989 verdientermaßen auf dem Müllhaufen der Geschichte. Das bescherte der politischen Frontorganisation des Kommunismus natürlich eine schwere Identitätskrise. Auf dem Weltkongress 1994 in Damaskus beschloss man eine Restrukturierung. Der Verband ist nun in Europa eher eine Sammelbewegung kleinerer Gewerkschaften mit radikalerer Ausrichtung und bemüht sich vor allem verstärkt um Mitglieder im Entwicklungsländern, wo man gegen den Imperialismus der kapitalistischen Länder kämpft. Die Umstrukturierung brachte auch eine Verlegung des Sitzes mit sich. 1999 zog man von Prag nach Athen um. Das schuf Platz für viele – nunmehr privatwirtschaftliche – Büros von Unternehmen.

Ein anderer Bewohner, der noch in Zeiten des Kommunismus hier eingezogen war, war schon vorher ausgezogen, nämlich der Reiseveranstalter Čedok (Abk. f. Československá dopravní kancelář/Tschechoslowakisches Reisebüro). Den gab es schon seit 1920, er war aber 1948 von den Kommunisten verstaatlicht worden. Dadurch war er bald mit den kommunistischen Gewerkschaften recht eng verbunden und betrieb deren Hotels und organisierte allerlei partei- und gewerkschaftsnahe touristische Aktivitäten. Auch für Čedok bedeutete das Jahr 1989 eine Zäsur. 1990 wurde die Firma erfolgreich als Reisebüro privatisiert. Damit verbunden stand 1993 der Umzug der Auszug in ein anderes Bürohaus und später sogar in ein brandneues und hochmodernes Gebäude, dem Crystal in der Vinohradská 2577/178, an. Im Gegensatz zur Gewerkschaftsorganisation hat Čedok immerhin dem alten Gebäude immer noch seinen Stempel aufgedrückt, prangt doch das Logo hoch über dem Dach und verleiht dem Ganzen einen unwiderstehlichen Retro-Charme. (DD)

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