- Hans Weber
- November 1, 2024
Das Herz der tschechischen Demokratie
Hier in der Sněmovní 176/4 schlägt das Herz der tschechischen Demokratie. Seit 1993 – also seit Tschechien ein eigener Staat wurde – residiert hier im Thunovský-Palais (Thun Palast) auf der Kleinseite das Abgeordnetenhaus des Landes. Aber die Geschichte des Gebäudes lässt sich bis ins Mittelalter verfolgen. Im Keller fanden Archäologen Spuren von fünf gotischen Häusern.
Erst im 17. Jahrhundert verschwanden die und es entstand hier ein palastartiges Gebäude nachdem die Adelsfamilie von Thun und Hohenstein (meist nur Thun genannt) das Grundstück erworben hatte. Die baute 1694 einen Barockpalast darauf. Von dem haben außen hauptsächlich die schönen Eingangsportale hin zur Sněmovní die späteren Umbauten überlebt. Zu den damaligen Highlights des Barockbaus gehörte ein großer Theatersaal, in dem später unter anderem Mozartopern aufgeführt wurden. 1794 zerstörte aber ein Feuer den Bau und die Thuns hatten kein Interesse mehr an einem Wiederaufbau und verkauften das Ganze im Jahre 1801. Damit begann die Karriere des Gebäudes als „politisches Bauwerk“, denn der nächste Besitzer waren die Böhmischen Landstände – damals noch kein modernes Parlament, sondern eine recht vormoderne Ständeversammlung.
Richtig bedeutsam war sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die Stände als Instrument der monarchischen Machtkontrolle hatten ja seit der Niederlage der Böhmen gegen die Habsburger in der Schlacht am Weißen Berg 1620 weitgehend ausgedient und von königlicher Seite wurden sie auch fast nie einberufen. Vor 1801 hatten sie – wenn überhaupt – auf der Burg getagt, jetzt zogen sie in den Thunovský Palais ein. Allmählich begann auch die Umwandlung in eine Art von Parlament mit größeren Befugnissen. Das Jahr 1861 brachte die Konstituierung als eine halbwegs moderne, wenngleich immer noch von ständischen Elementen geprägte Institution, den Landtag. Wirklich demokratisch repräsentativ war der immer noch nicht, aber im Kontext des Habsburgerreichs ein echter Fortschritt.
Diesen Fortschritt wollte man dann auch baulich verdeutlichen. Der Palast wurde modernisiert und mit einer einheitlichen 90 Meter langen Fassade im damals aktuellen Stil des Klassizismus versehen. Ebenfalls ganz klassisch wurde über dem Mittelrisalit die Inschrift „Salus rei publicae suprema lex esto“ angebracht, ein abgewandeltes Cicero-Zitat, das auf Deutsch „Das Wohl des Staates sei das höchste Gesetz“ heißt. Bis 1913 tagten hier der Landtag – bis er aufgelöst wurde, weil die Querelen zwischen deutschen und tschechischen Abgeordneten ihn am Ende handlungsunfähig machten..
Es folgte der Erste Weltkrieg und ihm die Unabhängigkeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Im Thunovský-Palais traf sich im November 1918 – wenige Wochen nach Ausrufung der Unabhängigkeit – die Nationalversammlung, die dann Tomáš Garrigue Masaryk (früherer Beitrag hier) zum Präsidenten proklamierte und die Regierung einsetzte. Von 1919 bis zur Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Nazis 1938 tagte hier der Senat, wofür das Gebäude Mitte der 1930er Jahre innen teilweise umgebaut wurde. Staatsgründer Masaryk dominiert in Form von unzähligen Büsten und Statuen geradezu das Interieur des ganzen Bauwerks. Oberhalb rechts kann man erkennen, wie er das recht transparent vom Treppenhaus sichtbare Amtszimmer von Parlamentspräsidentin Markéta Pekarová Adamová schmückt.
In den Zeiten des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg war das Gebäude einigen ministerialen Bürokratien und Parteigremien vorbehalten. Parlamentarische Aktivitäten fanden hier nicht mehr statt. Auch nach dem Ende des Kommunismus tagte das tschechoslowakische Abgeordnetenhaus im heutigen Neuen Nationalmuseum, wo es 1972 eingezogen war (früherer Beitrag hier). Die Trennung der Slowakei von Tschechien am 1. Januar 1993 änderte dies. Seither tagt die wichtigste der beiden Kammern, das Abgeordnetenhaus, wieder im Thunovský-Palais und es wimmelt von fleißigen Parlamentariern, die sich in Konferenzräumen, wie dem oberhalb links abgebildeten, an den neuen Gesetzen abrackern. Die zweite Kammer, der Senat, der im wesentlichen die Abgeordnetenkammer kontrolliert, hat im nahegelegenen Valdštejnský palác seinen Sitz.
Das Gebäude strahlt schon von außen mit seinen klassizistischen Bezügen zur Römischen Republik eine würdige parlamentarische Aura aus – ein Eindruck der sich übrigens auch im Inneren fortsetzt. Die Parlamentskammer wurde in den 1860er Jahren gestaltet, passt sich aber dem Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts an. Besichtigungen des Abgeordnetenhauses (hier) sind möglich. Die kompetent gestalteten Führungen sind kurzweilig und umfassen eine kleine Ausstellung mit wichtigen Dokumenten zur Entwicklung der böhmischen/tschechischen Demokratie. Und wenn die eigentliche Parlamentskammer wieder einmal wegen einer Geheimsitzung nicht zu besichtigen ist, kann man sie sich immerhin anhand eines kleinen Modells erläutern lassen (Bild oberhalb rechts).
Neben der Parlamentskammer (in der ich beim letzten Besuch wegen einer ebensolchen Sondersitzung nicht photographieren durfte) ist vor allem das zuvor erwähnte stattliche barocke Treppenhaus erwähnenswert. Wie bei dem ganzen Barockbau (der 1740 noch einmal überarbeitet worden war), weiß man den Namen des Architekten leider nicht mehr – was äußerst schade ist. Das Ganze erinnert ein wenig daran, dass dies hier dereinst kein Abgeordnetenhaus war, sondern ein Palast mit Theater. Entsprechend prachtvoll theatralisch erschein das Bauwerk hier im Treppenhaus. Für die Tatsache, dass das Gebäude nicht von vornherein für den parlamentarischen Zweck entworfen wurde zahlt man allerdings einen Preis.
Das Gebäude ist zu klein und hat nicht genügend Räumlichkeiten für einen modernen parlamentarischen Betrieb. Deshalb wurden über die Jahrzehnte immer mehr unmittelbar benachbarte Gebäude vom Parlament erworden, die zusätzlichen Raum schufen (etwa dieses und dieses). Besucher tun dies häufig über das alte barocke Palais Sternberg (Šternberský palác; wir berichteten hier) am Malostranské náměstí (Kleinseitner Ring). Hier sind zum Beispiel Räume für die Parteifraktionen untergebracht, die sich ebenfalls recht nobel ausnehmen. Im Bild rechts sieht man den Trakt für die Unabhängigen- und Bürgermeisterpartei STAN. Das hat schon ein recht monarchische Gepränge für ein der Demokratie gewidmeten Gebäude…
Ein besonderes Erlebnis ist, dass man vom Palais aus das eigentliche Abgeordnetenhaus im Thun Palast über eine überaus pittoreske Brücke mit hübschen Sgraffiti im Stil der Neorenaissance gehen kann – und nicht etwa einen unterirdischen Weg benutzen muss. Das heutige Parlament ist geradezu ein Labyrinth aus verschiedenen Gebäuden, dessen Kernstück aber immer noch der alte Thun Palast ist. Das macht es noch erstrebenswerter, einmal eine Tour zu buchen. (DD)
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