- Hans Weber
- December 18, 2024
Das Schicksal Zweier Schwestern
Das Švanda-Theater (Švandovo divadlo) im Prager Stadtteil Smíchov brachte Ende Oktober einen neuen Titel auf die Bühne: Das „Kabarett Winton“.
Die Autorin des Sujets zu diesem bemerkenswerten Theaterstück ist die tschechische Schriftstellerin Kateřina Tučková (1980), deren Romane „Gerta. Das deutsche Mädchen“ und „Das Vermächtnis der Göttinnen“ auch in deutscher Sprache vorliegen. Eigens für die Švanda-Bühne begab sich Tučková auf eine detaillierte Spurensuche nach den Ereignissen um die sogenannten Winton-Kinder. Sie traf dabei auf eine reale Lebensgeschichte zweier Schwestern, die zu den Hauptfiguren des „Kabarett Winton“ wurden. „Das, was Nicholas Winton mit seinen Mitarbeitern für 669 tschechoslowakische Kinder leistete, war außerordentlich. Doch war er nicht der Hauptheld. Es waren die Eltern, die ihrer Intuition folgten und ihre Kinder ins Unbekannte schickten, um sie zu retten. Es waren die Kinder, die in dem Augenblick, als sie ihren Fuß auf den britischen Boden setzten, nicht das Happy End erlebten. Denn sie befanden sich am Anfang einer Reise, die zweifelsohne niemand von uns würde antreten wollen“, betont Tučková. Sie macht damit auf ein wichtiges Moment aufmerksam, denn meist wird die Geschichte der Winton-Kinder auf eine glückliche Geschichte reduziert. Die wahre Situation war damals jedoch viel komplizierter. Denn die Kinder bezahlten ihre neue Lebenschance mit dem Verlust ihrer Familie, Heimat, Muttersprache und häufig auch mit ihren realen Namen. Und wenn es ihnen gelungen war, nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzukehren, fanden sie in ihrer einstigen Heimat in den meisten Fällen keinen Verwandten mehr. Das Thema der Kindertransporte, die von Nicholas Winton in der besetzten Tschechoslowakei initiiert und organisiert wurden, bearbeitete Kateřina Tučková gemeinsam mit dem Regisseur des Švanda-Theater, Martin Františák.
Leben als Kabarett
Das dermaßen gewichtige Thema wird auf der Bühne des Švanda-Theaters in Form eines schrillen Kabaretts behandelt. Wieso hat die Dramaturgin gerade diese Form gewählt? „Nicht nur wegen der Musikalität, sondern auch wegen der Möglichkeit einer Abkürzung, des Stimmungswechsels und der ausdruckstarken Bildhaftigkeit“, erklärt Martina Kinská. „Denn das Kabarett gehört schließlich zur Epoche der späten 30er Jahre und ermöglicht eine Stilisierung, Verspieltheit und Groteske bis zum harten Sarkasmus“, fügt die Dramaturgin hinzu. Dies ist am deutlichsten an der Figur des teuflischen, sich allen Regimen anpassenden Kašpar (Kasperl) zu sehen. Die Rolle des Kabarett-Begleiters sowie des unermüdlichen Entertainers verkörpert meisterhaft Miroslav Hanuš. Überzeugende Leistungen bringen auch weitere Schauspieler des Švanda-Theaters vor, vor allem Tomáš Petřík und Bohdana Polívková als Eltern. Als 13-jährige Ester wechseln sich Katarína Mišeková und Sára Lutovská ab.
Die Veranstaltung wird teilweise auch mit englischen Untertiteln aufgeführt, so wie z. B. am 18. Januar 2023. Mehr auf www.svandovodivadlo.cz
Sir Nicholas Winton (1909-2015) stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie und arbeitete als Börsenmakler. Als er bei einem Besuch in Prag erfuhr, in welchen schwierigen Bedingungen Flüchtlinge aus dem Sudetenland leben, wurde er zum Kinderretter der tschechischen und besonders der jüdischen Kinder.
Gemeinsam mit weiteren Mitarbeitern wie Martin Blake und Doreen Warriner initiierte er zuerst aus Prag, und dann aus England, von März 1939 bis August 1939 insgesamt acht Kindertransporte. Der neunte Zug mit 250 Kindern sollte am 1. September 1939 abfahren, doch dann brach der Zweite Weltkrieg. Kein Kind, das mit diesem Zug in Sicherheit gebracht werden sollte, überlebte. Insgesamt rettete Nicolas Winton 669 tschechoslowakische Kinder. Über seine Tätigkeit schwieg er jahrelang und die Welt erfuhr darüber nur durch Zufall. Für seine Tat erhielt Winton von Václav Havel den Masaryk-Orden. 2003 schlug ihn Königin Elisabeth II. zum Ritter. 2014 wurde ihm von Präsident Miloš Zeman die höchste Staatsauszeichnung Tschechiens verliehen, der Orden des Weißen Löwen. Auf dem Prager Hauptbahnhof, wo die Kindertransporte abgefahren sind, wurde ein Denkmal zu seinen Ehren aufgestellt.
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