- Hans Weber
- December 18, 2024
Der Fälscher im Prunkgrab
Als der Schwindel richtig aufflog, war es zu spät. Da lag er bereits in einem besonders schmuck- und ehrenvollen Grab auf dem Nationalfriedhof hoch oben über der Stadt auf dem Vyšehrad. Und als er dort 1861 beerdigt wurde, schrieb die tschechische patriotische Zeitung Národní Listy, seine „Beerdigung war in der Tat und im wahrsten Sinne des Wortes eine nationale Feier, großartig und beindruckend.“
Ja, der Mann hatte tatsächlich den Nationalstolz der Tschechen im Habsburgerreich angefacht. Im Jahr 1817 trat Václav Hanka mit der sensationellen Nachricht an die Öffentlichkeit, er habe im Turm der Kirche Johannes des Täufers (Kostel svatého Jana Křtitele) in Dvůr Králové nad Labem (dt.: Königinhof) eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert gefunden habe. Es handle sich um das älteste Stück Literatur in tschechischer Sprache und sei das Fragment eines großen Epos, dem zusätzlich einige Gedichte beigefügt worden waren.
Das war zu schön, um wahr zu sein. Griechenland hatte seinen Homer; die Engländer die Artussage und die Deutschen ihr Nibelungenlied. Jetzt hatten auch die Tschechen ein großes Epos aus früher Zeit: Die Königinhofer Handschrift (Rukopis královédvorský)! Man hätte gewarnt sein können. Schon einmal, im Jahre 1760, hatte ein Schriftsteller namens James Macpherson die literarischen Minderwertigkeitskomplexe der Schotten ausgenutzt, um ihnen seine „schottische“ Epenfälschung Ossian anzudrehen – ein grober Betrug, der einige Jahre später entlarvt wurde. Aber im Gegensatz zu Macpherson, der sich einfach recht plump weigerte, die (realiter nicht existierenden) Originalmanuskripte Experten zur Überprüfung vorzulegen, lag den Tschechen hier etwas vor, das wirklich wie eine echte mittelalterliche Handschrift aussah. 1818 legte Hanka noch einmal nach und präsentierte noch eine Handschrift ähnlicher Machart, die Grünberger Handschrift (rukopis zelenohorský).
Die sah auch echt aus. Und warum sollte man Hanka nicht glauben? Der war einer der renommiertesten Erforscher der alttschechischen Sprache überhaupt und galt als der ausgewiesene Kenner mittelalterlicher Dokumente schlechthin. Er war Schüler des legendären Josef Dobrovský, der die erste tschechische Grammatik verfasst hatte (wir berichteten hier) und später wurde er Leiter der Literaturabteilung des Nationalmuseums. Dazu kam noch viel später eine Professur an der Karlsuniversität. An seinem philologischen Wissen konnte zu Recht niemand zweifeln. Folglich gerieten die Tschechen ganz und gar aus dem Häuschen als sie von seiner Entdeckung eines urtschechischen Nationalepos erfuhren. Die Begeisterung schwappte auch über die Grenzen Böhmens. Goethe veröffentlichte schon bald eine deutsche Nachempfindung eines der nicht-epischen Gedichte (Das Sträußchen) aus der Handschrift. Sie war wiederum inspiriert von der 1819 erschienenen deutschen Übersetzung des Werkes, die ein Werk von Hankas Mitarbeiter (und möglicherweise Mitfälschers) Václav Alois Svoboda war. Romantiker aus allen Ländern schwärmten von der Urwüchsigkeit und Authenzität der mittelalterlichen Lyrik, darunter Jacob Grimm und François-René de Chateaubriand.
Und tatsächlich hatte die Handschrift auch das Zeug zum Historienbestseller. Im Mittelpunkt stehen die Schlachten, die die beiden vorhistorischen alttschechischen Kriegerfürsten Záboj und Slavoj siegreich gegen den bösen Eindringling Luděk bestehen, der wohl in Wirklichkeit ein Ludwig und somit Deutscher war. Das bestätigte das Geschichtsbild, das tschechische Patrioten, die unter der Habsburgerdominanz litten, gerne hörten. Die unweit von Hankas Grab befindlichen Monumentalstatuen, die der Bildhauer Josef Václav Myslbek zwischen 1889 und 1897 errichtete (Bild oberhalb rechts), zeugen von der Popularität des Mythos der beiden Ur-Helden (wir berichteten hier).
Der als „Vater der Nation“ geltende Nationalhistoriker František Palacký verwendete die Handschrift und ihre „Überlieferung“ bei seiner 1848 erschienenen „Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren“ als Quelle. Sie unterstrich dabei das patriotische Generalthema, dass die böhmische Geschichte primär ein ewiger Kampf zwischen gewalttätigen Germanen/Deutschen und friedvollen, aber tapferen Slawen gewesen war. Diese Botschaft fand sich nicht nur in den Kämpfern Záboj und Slavoj personifiziert, sondern vor allem auch bei dem feinsinnigen aber todesmutigen Sänger Lumír, „der mit Wort und Sange rührt den Wyšehrad und alle Lande.“ Er wurde zur Kulturikone, nach der 1851 eine bedeutende Kulturzeitschrift benannt wurde, und der deshalb auch nicht bei dem opulenten Fassadenschmuck des Nationaltheaters (1881) fehlen durfte, wo er poetisch die Leier spielt und mutig trotzend in die Ferne schaut (Bild oberhalb).
Erste Zweifel an der Echtheit äußerte erstmals, aber ganz vorsichtig der damals sehr bekannte Slawist Jernej Kopitar im Jahr 1824. Da die meisten tschechischen Wissenschaftler aber ungebrochen an die Echtheit glaubten und der Zweifel nur verhalten war, ging das fast unbemerkt unter. Auch Hankas Lehrer Dobrovský äußerte verhalten Zweifel. Bei so einem patriotischen Überschwang bei der Rezeption des neuen „Nationalepos“ war jedoch absehbar, dass die Äußerung von Zweifeln an der Echtheit eher eine riskante Sache werden könnte, weshalb der erste Zweifler, der 1858 ganz eindeutig behauptete, das Ganze sei eine Fälschung Hankas, vorsorglich anomym blieb. Das war klug, wie der Sturm der Empörung zeigte, der nun aufbrauste. Aber die Debatte war da! Und sie ging nicht wieder weg. 1859 veröffentlichte der Wiener Historiker Max Büdinger einen wissenschaftlich fundierten Artikel, den Hankas Unterstützer nicht mehr so einfach wegschieben konnten. Büdinger legte 1861 mit seinem Buch „Die Königinhofer Handschrift und ihre neusten Vertheidiger“ noch einmal ausführlich nach. Unter normalen Bedingungen hätte das die Sache erledigt. Aber hier ging es nicht nur um philologische Kleinigkeiten, sondern um vaterländische Gefühle.
1861 starb auch Hanka und sein Riesenbegräbnis war eine patriotische Demonstration, wie ja Narodný Listek auch korrekt berichtete. Sie waren von recht wenig solide fundierten Gerüchten begleitet, die fiesen Fälschungsvorwürfe hätten ihn in den Tod getrieben. Und immer noch standen große Teile des (tschechischen) wissenschaftlichen und literarischen Establishments auch noch posthum auf seiner Seite – allen voran Palacký, an dessen Autorität als Nationalhistoriker man damals kaum vorbei kam.
Als man 1885 mit dem Bau des großen Nationalmuseums (Národní Muzeum) begann, über das wir hier berichteten, wurden über den Fenstern des zweiten Stocks Stucktafeln angebracht mit den Namen unzähliger großer Wissenschaftler und Intellektueller Böhmens – sozusagen eine Zurschaustellung von akademischem Patriotismus. Und selbstredend (und Büdingers Forschungen zum Trotz) fehlte Hankas Namen nicht. Noch heute befindet er sich hier zwischen dem slowakischen Slawisten Pavel Jozef Šafárik und dem Physiker Franz Adam Petřina. Dieses trotzige Aufbäumen konnte die zweite Welle der Debatte in den späten1880er Jahren aber nicht mehr verhindern. An ihr beteiligte sich auch der spätere erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, der gewiss nicht im Verdacht stand unpatriotisch zu sein. In einem Artikel in der Zeitschrift Athenaeum zeigte er 1889 auf, dass es sich nur um eine Fälschung handeln könne – in aller Wahrscheinlichkeit das Werk Hankas selbst. Damals wohnte Masaryk mit seiner Familie zur Miete in der Villa des Schriftstellers Václav Vlček, der ihn aus patriotischer Entrüstung aus der Wohnung warf (wir berichteten hier). Das nutzte in der Sache nichts. Und Masaryk betonte weiter, dass die modernen Tschechen für ihren Nationalstolz keine erfundenen Mythen bräuchten. Inzwischen haben moderne Materialforschungen in den 1990er Jahren, die man zu Hankas Zeiten noch nicht zur Verfügung hatte, die für damalige Verhältnisse sehr gut gemachte Fälschung nachgewiesen.
Es gibt immer noch Verteidiger Hankas, die behaupten, die Diskussion sei von Feinden der Nation (schließlich leugneten auch die Kommunisten die Echtheit der Handschrift) gesteuert. Oder einige die meinen, er sei von seinem Mitarbeiter Svoboda reingelegt worden, der der wahre Fälscher gewesen sei. Nun ja, auf jeden Fall liegt Hanka an prominenter Stelle auf dem Nationalfriedhof. Das riesige das obeliskenähnliche Prunkgrab finanzierte 1863 (zwei Jahre nach dem Ableben) die renommierte Svatobor Gesellschaft (Spolek Svatobor), eine Vereinigung, die arme Schriftsteller unterstützt und vor allem die Nationalgrabstätte Slavín (drittes Bild von unten) betreut. „Nationen gehen nicht unter, wenn die Sprache lebt!“, steht auf der Inschrift, die damit vorsichtshalber auf die unbestrittenen Verdienste Hankas für die slawische Philologie hinweist und nicht auf die Königinhofer Handschrift. Die Unterstützung des Grabdenkmals durch die Svatobor Gesellschaft erklärt übrigens auch das seltsame Symbol auf der Spitze des Grabes – drei Hände, die einen Ring festhalten. Das ist nämlich das Logo des Vereins, der sich hiermit selbst verewigt hat. (DD)
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