Die Gifthütte – ein Ort der Legenden

Das 1932/33 im damals hochaktuellen Stil des Funktionalismus von Architekt Josef Kalous – immerhin der Erbauer der berühmten Messehalle in Brno – erbaute dreistöckige Wohnhaus in der Apolinářská 445/6 (Prag 2) mag nicht besonders spektakulär aussehen. Aber Geschichte dahinter ist es schon.

Denn hier stand dereinst die Jedová Chýše – die Gifthütte! Das war ein Ort, um den sich schaurige Mythen rankten. Die Gifthütte, das war eine Taverne mit üblem Ruf, deren Ursprünge sich in den Untiefen des Mittelalters verlieren. Beten macht Durst und so wurde die Kneipe wohl schon um 1362 eröffnet, als direkt in der Nachbarschaft die Kirche St. Apollinaris (Kostel svatého Apolináře) erbaut wurde. Und schon damals verbreiteten sich Geschichten um sie, dass in der Umgebung auffallend viele Morde und Überfälle stattfanden. Noch im 16. Jahrhundert soll der berühmte Golem des Rabbi Löw hier Bösewichte bestraft haben.

Eine von den vielen Sagen und Mythen der Zeit mag der Gifthütte den Namen gegeben haben. Wenn es denn stimmt. Jedenfalls besagt eine Legende, dass Anfang des 15. Jahrhunderts König Wenzel IV. als „normaler“ Bürger verkleidet in dieser Taverne einkehrte, die damals noch ganz unschuldig Na vinici (Zum Weinberg) hieß. Dort erkannte er zwei Übeltäter, die ihn vor einiger Zeit mit einem Gift umbringen wollten. Während die beiden bei einem Tanz abgelenkt waren, befahl der König seinem Henker, ihnen Gift in den Wein zu geben. Die beiden tranken den Wein und verendeten qualvoll. Seither, so heißt es, habe die Taverne Gifthütte geheißen. Es gibt aber auch andere (glaubwürdigere) Mutmaßungen über den Ursprung des Namens. Im 19. Jahrhundert wurden in der unmittelbaren Umgebung etliche Gebäude der Medizinischen Fakultät der Karlsuniversität erbaut. Danach kehrten hier gerne Medizinstudenten ein, die im Ruf standen, mit allerlei Giften zu hantieren. Aber das ist natürlich keine so schöne Legende, wie die mit dem alten König Wenzel.

Auf jeden Fall war zu diesem Zeitpunkt die Jedová Chýse eine wüste Kneipe. Im späten 19. Jahrhundert kam es immer wieder zu Schlägereien zwischen tschechischen und deutschen Studenten – ein böses Omen für die kommenden Übel des Nationalismus. Es heißt, der Wirt habe Angst gehabt, dass ihm ständig Besteck gestohlen werde. Deshalb aßen die Gäste gemeinsam Suppe aus einer im Holztisch eingekerbten Mulde und die billigen Holzlöffel waren am Tisch angekettet. Nach heutigen Standards eine etwas unhygienische Angelegenheit… In diesen Zeiten war aber die Gifthütte bereits die älteste Kneipe Prags und eine Legende, die immer neue Legenden gebahr. Etwa die, dass sich hier Mathieu Dreyfuss versteckt hielt, der Bruder des berühmten französischen Offiziers Alfred Dreyfus, der in Frankreich aufgrund von gefälschten Beweisen und einer großen Dosis Antisemitismus zu Unrecht wegen Landesverrat in den Kerker gesteckt worden war (Dreyfuss Affaire). Dass Mathieu Dreyfuss, der in Frankreich eine energische Kampagne zur Freilassung seines Bruders lancierte, tatsächlich zu dieser Zeit in Prag war, kann allerdings herzhaft bezweifelt werden.

Der Status, ein wahrer Mythos unter den Prager Schänken zu sein, erwies sich aber am Ende als geringer Schutz für die Gifthütte. Im Jahre 1926 erlebte sie noch einmal einen neuen Höhepunkt, als etliche Szenen der ersten Verfilmung des berühmten Romans vom guten Soldaten Schwejk (Dobrý voják Švejk), die sogar noch ein Stummfilm war (Filmausschnitt hier), hier gedreht wurden. Noch in den 1970er Jahren tauchte die Gifthütte in den Kriminalgeschichten von Jiří Marek, die in den 1920er Jahren spielen, immer wieder als Ganoventreff auf (etwa in der Sammlung Panoptikum sündiger Leute, 1974). Aber da war die Gifthütte bereits Vergangenheit. Im Jahre 1927 kaufte der Mediziner Professor Antonín Heveroch, ein berühmter Psychater und Neurologe, das Gebäude, um hier ein zusätzliches Klinikgebäude zu erbauen. Kurz vor Kaufabschluss warnte man ihn, dass das Haus verflucht sei. Er schlug die Warnung in den Wind und kurz darauf verstarb er plötzlich und unerwartet. Nun ja. Aus dem Klinikplan wurde nichts. Stattdessen entstand das von Kalous gebaute funktionalistische Mietshaus. Das sieht, wie gesagt, unspektakulär aus. Das passt. Denn die Umgebung gilt heute wegen ihrer ruhigen Lage eine der besseren und teuereren Wohngegenden Prags. Damit zog eine gewisse gepflegte Langeweile im Umfeld ein. Die turbulente Welt der Gifthütte ist unwiderbringlich passé. (DD)

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