- Hans Weber
- December 18, 2024
Eingezwängte Neorenaissance
Der Wenzelsplatz (Václavské náměstí) ist riesig und wurde nicht aus einem Guss gestaltet. Deshalb entgeht dem Betrachter oft die vielfältige, im einzelnen Detail liegende Schönheit der Architektur, die sich ringsum in Hülle und Fülle befindet. Das gilt vor allem, wenn ein besonders schönes Haus, wie das mit der Nummer 781/20, von größeren und weniger schönen Häusern förmlich eingezwängt und optisch geradezu erdrückt wird.
Beim näheren Hingucken erkennt man erst die Qualität des Gebäudes. Es wurde hier im Jahre 1886 erbaut. Der Wenzelsplatz ist eigentlich so etwas wie ein stehender Wettbewerb zwischen modernen und historistischen Bauwerken. Dieses hier ist eindeutig historistisch, und zwar vom feinsten. Es handelt sich um ein vollendetes Beispiel für den Neorenaissancestil, das von dem Architekten Jiří Stibral entworfen wurde. Der sollte sich später mit seinem Entwurf für den Bau von Schloss Průhonice (früherer Beitrag hier) außerhalb der Stadt einem soliden Ruf als historistischer Architekt erwerben.
Sein Können kann man auch hier am Wenzelsplatz bewundern. Alleine der Giebel mit der über ihm thronenden Madonna in einer Muschelnische, der von prachtvollen Voluten umgeben ist, macht schon was her. Weiter unten finden sich sorgfältige Nachempfindungen von Sgraffiti der Renaissance, von denen die beiden in den Blinfenstern des vierten Stock – je eine männliche und eine weibliche Gestalt – herausragen.
Der Architekt, der das im Erdgeschoss nur durch einfache Pilaster strukturierte Haus nach oben zum Giebel immer raffinerter gestaltet (die Madonna sollte sozusagen das höchste Gut werden), folgte bei seinem Plan nicht dem Beispiel der italienischen, sondern der deutschen Renaissance, für die er wohl einen besonderen Faible hatte. Dabei war Stibral durchaus für Modernität offen. Er gilt als einer der Begründer des modernen Industriedesigns. Für die Eisenbahnfabrik der Ringhofferschen Werke entwarf der Technikbegeisterte zum Beispiel Salonwagen der Luxusklasse.
Derartiges brachte ihm in dem selben Jahr 1897den Posten des Direktors der Akademie für Kunst, Architektur und Design (Vysoká škola umělecko-průmyslová) in Prag ein. Aber die Liebe zur deutschen Renaissance, die er bei dem Haus am Wenzelplatz auslebte, sollte ein möglicherweise Teil dessen sein, was seiner beruflichen Karriere dann doch einen Dämpfer versetzte. 1919 war die Tschechoslowakei unabhängig geworden und das Habsburgerreich war untergegangen. Wenn seiner „österreichischen“ Gesinnung entließ man ihn kurzehand als Direktor der Akademie. (DD)
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