Erinnerung an den Aufbruch

Er ist eines der letzten sichtbaren Zeugnisse des großen Aufbruchs, den der heutige Prager Stadtteil Libeň im 19. Jahrhundert durchlebte: Der Schornstein der ehemaligen Fabrik der Brüder Perutz, der nunmehr einsam auf einer kleinen Grünfläche an der Libeňský most, Ecke Voctářova steht.

In Libeň, das erst 1901 Teil von Prag wurde (mehr dazu hier), hatte sich im 19. Jahrhundert eine große jüdische Gemeinde entwickelt, über deren Erbe wir hier berichteten. Im Laufe der Zeit entstanden hier deshalb auch viele Industriebetriebe mit jüdischen Besitzern, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts geradezu eine lokale Industrielle Revolution entfachten (eines von vielen Beispielen war die Leinwandfabrik Grab, worüber wir hier berichteten).

Vor allem in den Uferarealen nahe der Moldau gegenüber von Holešovice entstand ein regelrechtes Industrigebiet mit unzähligen Fabriken, die der Bevölkerung Lohn und Brot verschafften.

Der Schornstein, den wir hier sehen, gehörte zu der Firma Spinn- und Webwarenfabriken Brüder Perutz , die hier im Jahre 1875 errichtet wurde. Gegründet wurde sie von dem sehr säkularen jüdischen Unternehmer Benedikt Perutz, dem Vater des berühmten Schriftstellers Leo Perutz (dessen Roman Nachts unter der steinernen Brücke zur Pflichtlektüre für jeden Freund der Prager deutsch-jüdischen Literatur gehören sollte), zusammen mit seinem Bruder und Co-Chef Siegmund Perutz. Die Textilfirma expandierte schnell. Es gab bald mehrere Ableger der Fabrik in Böhmen (der größte in Varnsdorf) und später in Ungarn. 1899 verlegte die Familie ihren Wohnsitz von Libeň nach Wien, wo eine neue Firmenzentrale aufgebaut wurde. Die Fabrik in Libeň blieb aber in Betrieb.

Die Firma der Brüder Perutz überlebte die Wirren von Nationalsozialismus (der Teile der Erben ins Exil in die USA zwang) und des Kommunismus nicht. 1949 wurde die Anlage von der staatlichen Weberei Henap (ab 1958 Hedva) übernommen. Das ganze Industrieareal von Libeň war nach dem Ende des Kommunismus 1989 völlig heruntergekommen und die Produktionsstätten nicht mehr im entferntesten wettbewerbsfähig. Nach einer längeren Zeit der Brache wurde das Ganze Gebiet ab 2013 völlig neu für Büro- und Wohnblocks erschlossen. Alles wurde recht nobel und luxuriös. Gentrifizierung nennt man das wohl heute. Man könnte auch von einem zweiten Aufbruch des Stadtteils sprechen. Die alten Anlagen verschwanden. Aber der Schornstein der Firma Brüder Perutz blieb als Erinnerung an frühere Zeiten stehen. Seit dem Jahr 2020 ist er sogar offiziell zum Kulturdenkmal erklärt worden. Niemand hätte wohl 1875 den Schornstein für ein Kulturgut gehalten, aber im Kontrast zu den heutigen modernen Bürogebäuden strahlt er heute ein irgendwie fast schon behaglich altertümliches Flair aus.

Nun ist ein solcher Schornstein sicher nicht einzigartig. Aber er zeigt gerade dadurch, dass er jetzt als Solitär sein Dasein fristet, besonders anschaulich, dass man sich Ende des 19. Jahrhunderts selbst bei profanen Wirtschaftsgebäuden Mühe bei der ästhetischen Ausgestaltung gab. Der Kamin im Sockel ist achteckig gestaltet und schließt oben mit einer kreisförmigen Struktur ab. Aus dem verwendeten Ziegel wurden auch künstlerische Elemente eingebaut. Insgesamt erreicht der Schornstein eine Höhe von 57 Metern. Ursprünglich konnte man ihn zur Wartungszwecken mit an außen angebrachten kleinen Metallleiterstufen erklimmen. Das wäre für leichtsinnige Jugendliche oder potentielle Selbstmörder nun, da der Trum frei steht, eine zu große Verlockung. Deshalb hat man sie im unteren Bereich abgenommen. Auch der an einer Seite dereinst offene Kamineingang unten ist verschlossen. Es hanelt sich ja um ein Kulturdenkmal und nicht um einen Spielplatz. (DD)

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