Explosive Firma

Žižkov war das alte Industrieviertel von Prag, in dem man noch das eine oder andere Stück alter Industriearchitektur finden kann. Das kleine Fabrikgebäude aus dem Jahr 1870 mit seinem rund 40 Meter hohen Schornstein erinnert an ein besonders kurioses Stück Industriegeschichte des Stadtteils, bei dem durchaus mal gefährlich die Fetzen fliegen konnten. Bis man den Besitzern nahelegte, sie könnten doch ihr Tun vielleicht in weniger bevölkerte Gegenden verlagern.

Wir sehen hier in der Pod Parukářkou 2768/1 ein Überbleibsel der großen Prager Fabrikanlage der Firma Bellot & Sellier. Deren Wirken begann im Jahre 1825. Für 2600 Goldstücke kaufte in diesem Jahr der deutsche (mit französischem Familienhintergrund) Chemiker Jean Maria Nicolaus Bellot zusammen mit seinem Geschäftspartner, der Jagdwaffenhändler und französische Emigrant Louis Pierre Daniel Sellier dem Grundbesitzer Leopold Tietz seinen Hof mit Gebäude ab, um dort eine Fabrik zur Herstellung. Zunächst produzierte man hier Zündhütchen für Gewehrpatronen (an deren Erfindung Bellot beteiligt war). Dieses Geschäft lief vorzüglich (1835 verkaufte man bereits 150 Millionen davon), war aber schon bald nicht das einzige Produkt. Bellot entwickelte ein Verfahren zur maschinellen Füllung von Patronen (was bisher Handarbeit war), das zu einer enormen Vergrößerung des Geschäfts führte. Als strategisch denkene Unternehmer bauten sie Filialen in anderen Ländern auf, damit sich der Markt nicht nur auf die Habsburgerarmee erstreckte. In Schönebeck an der Elbe wurde 1829 eine Fabrik aufgebaut, um Preußens Heer zu versorgen. 1884 (da waren beide Gründer allerdings schon tot) kam noch eine Produktionsstätte im damals russischen Riga dazu.

Vor allem flutete die Firma die Welt mit kreativen Patenten. Denn Bellot war ein genialer Tüftler. Das wurde ihm zum Verhängnis. 1832 kam es während einer seiner Experimente zu einer Explosion, die ihm das Augenlicht kostete. Kleinere Vorfälle gab es später auch sonst immer wieder. Und die Umgebung wurde immer dichter besiedelt. Damals gab es aber eine unternehmensfreundliche Kultur in der böhmischen Politik, so dass man die Firma dort weiter walten ließ. Immerhin trieb man 1870 in den nahen Felskamm einige tiefe Keller für Versuche, um die Bewohner rundum ein wenig zu schützen.

Was nicht verhinderte, dass dort 1872 14 Arbeiter bei einer Explosion ums Leben kamen. Aber, nun ja, die Fabrik war der eigentliche Gründungskern der bis 1922 eigenständigen Stadt Žižkov und einer der großen Arbeitgeber dort. Deshalb blieben noch große Beschwerden zunächst einmal aus. Für die Firma (ansonsten natürlich eher für wenige Menschen) war der Erste Weltkrieg (so zynisch es klingen mag) ein Segen, gehörte man doch zu den Hauptlieferanten von Munition für die Armeen der Mittelmächte. Die Geschäfte liefen während des Krieges phantastisch.

Als 1918 das Habsburgerreich zusammenbrach und die Erste Tschechoslowakische Republik gegründet wurde, musste die Firma die ausländischen Standorte abstoßen. Zudem wurde sie nun in Prag von der halbstaatlichen Handelsbank (Živnostenská banka) übernommen. Das Land wollte in Sachen Armeeversorgung autark bleiben. Aber da spätestens nach der Machtergreifung Hitlers im Nachbarland Deutschland die Armee stark aufrüsten musste, liefen die Geschäfte weiterhin gut. Zudem wuchsen Zweifel, ob es wirklich so gut und sicher sei, in einem der am dichtesten bevölkerten Stadtteile mit so viel explosiven Sachen herumzuhantieren. 1929 kaufte man für die Fabriken schließlich ein Grundstück am Rande der etwa 50 Kilometer südöstlich von Prag gelegenen Kleinstadt Vlašim, wo man in den Jahren 1934/35 dann ein neues, den Sicherheitsbedürfnissen der Menschen entsprechendes Werk baute.

Die Verwaltungszentrale blieb in Prag. Da explodierte ja nichts. Platz war auch da, denn im Jahre 1917 wurde bereits schon ein Anbau an das kleine Gebäude mit Schornstein angesetzt mit Eingang in der Kkapslovně 2767/2. Es handelt sich um ein neuartiges Meisterwerk der Moderne im geometrischen Stil mit einer Glas-Beton-Stahlkonstruktion und einem großen Studiofenster, dessen Architekt Zdeňek Frič war. Für die Firma insgesamt war auch der Zweite Weltkrieg lukrativ, da sie die Wehrmacht im großen Stil belieferte. Ende 1944 beschäftigte sie satte 7000 Mitarbeiter. Zur „Belohnung“, dass sie damit irgendwie Hitlers Krieg unterstützte, wurde sie allerdings 1945 gleich verstaatlicht. Erst 1991/92 wurde sie nach dem Ende des Kommunismus wieder privatisiert – zunächst als Aktiengesellschaft, seit 2009 als Unternehmen der CBC-Gruppe, einem brasilianischen Munitionskonzern.

In Prag hat die nun immer noch erfolgreiche Firma (als Lieferant der tschechischen Armee) ihre Zelte jedoch vollständig abgebrochen. Auch die Zentrale befindet sich nun vollständig in Vlašim. Die meisten alten Produktionsstätten sind längst abgerissen und wichen Wohnraum. Das Gebäude von 1870 mit seinem nunmehr nur noch als Dekorationselement dienenden Schornstein beherbergt jetzt kleine Firmenbüros. Der moderne Gebäudeteil, den Zdeňek Frič erbaut hatte, ist seit 2007 der Sitz der kleinen privaten (bilingualen) Hochschule Unicorn University. Das ist übrigens die einzige Privathochschule mit technischer Ausrichtung in Tschechien. Wenigstens ein wenig wird so der Geist des Erfinders Bellot in die Zukunft getragen. Und das mit dem unbestreitbaren Vorteil, dass man ihn ohne Explosionsgefahr pflegen kann. (DD)

Source

Recent posts

See All
  • Hans Weber
  • October 25, 2024

The BRICS Summit in Kazan: Shifting Geopolitical Dynamics and the Decline of the “West”

  • Hans Weber
  • October 25, 2024

Hungary’s National Day: Celebrating the Legacy of the 1956 Revolution and Hungary’s Pivotal Role in Today’s Europe, as they currently hold the presidency of the EU

  • Hans Weber
  • October 25, 2024

Austrian National Day: A Celebration of Peace and Unity

Prague Forum Membership

Join us

Be part of building bridges and channels to engage all the international key voices and decision makers living in the Czech Republic.

Become a member

Prague Forum Membership

Join us

    Close