Fassade mit Frauenquote

Über den Fenstern des ersten Stock kann man die Stuck-Reliefportraits von Literatinnen und Literaten bewundern, die im 19. Jahrhundert das anwachsende tschechische Nationalbewusstsein in den Zeiten des Habsburgerreiches vorantrieben. Hier sehen wir die Frauenrechtlerin Karolina Světlá. Ganz offensichtlich wollte man bei der Gestaltung des Gebäudes auch eine fortschrittliche Gesinnung an den Tag legen.

Wir befinden uns vor dem Gebäude der Hochschule für Finanzen und Verwaltung (Vysoká škola finanční a správní) in der Estonská 500/3 (Ecke Kodanská) im Stadtteil Vršovice (Prag 10). Man fragt sich natürlich sofort, in welcher Beziehung die hier abgebildeten Geistesgrößen zu Finanzen und Verwaltung standen. Die Antwort ist, dass dieses recht imposante dreistöckige Gebäude ursprünglich nicht für diesen Zeck gebaut wurden war. Im Jahr 1902, also um die Zeit der Entstehung des Gebäudes, hatte Vršovice eigene Stadtrechte bekommen, übrigens nur, um schon 1922 von Prag eingemeindet zu werden. Die neue Stadt brauchte natürlich auch eine Bildungsinfrastruktur. Und so baute man hier – mit schönem Blick auf den Herold-Parks (Heroldovy sady), den wir bereits hier erwähnten – eine Höhere Realschule.

Das Gebäude ist ein Beispiel für den späten geometrischen Jugendstil, wobei man besonders an den Giebeln auch Elemente der Neorenaissance einfließen ließ. Am besten erkennt man den Jugendstil-Charakter des Gebäudes an den Maskaronen über dem zweiten Stocks, die wir im Bild rechts sehen können. Ansonsten mutet die äußere Fassadenveranstaltung sehr streng und wenig ornamental an. Ein bisschen erinnert sie an die Fassaden von Industriegebäuden der Zeit.

Mit einer Ausnahme. Und das sind eben die Portrait-Medaillen der literarischen Größen des 19. Jahrhunderts. Und da erstaunt vor allem der recht hohe Anteil von Frauen (besonders auf der Straßenseite zur Estonská). Oder genauer gesagt: Frauenrechtlerinnen. Dabei war die Realschule ursprünglich nur für Jungen gedacht. Nun ja, eigentlich beginnt ja Frauenemanzipation auch immer irgendwie mit der Umerziehung der Männer. Links sehen wir die Schriftstellerin Božena Němcová (u.a. berichteten wir über sie u.a. hier und hier), die mit ihrem Roman Babička (Die Großmutter, 1855) berühmt wurde, aber sich auch politisch in allen Debattierzirkeln bewegte, in denen man sich damals für liberale Ideale und mehr Selbstbestimmung der Tschechen im Habsburgerreich engagierte.

Im großen Bild oben folgt die bereits erwähnte Frauenrechtlerin  Karolina Světlá (wir berichteten u.a. hier). Die war ein Multitalent (sie schrieb u.a. Libretti für Opern von Bedřich Smetana), widmete sich aktiv der Bildung für Frauen und gründete die ersten Frauenvereine, die sich für mehr Geleichberechtigung einsetzten. Und daneben sieht man ihre Mitstreiterin in Sachen Frauenrechten Eliška Krásnohorská (auch hier), die sich ebenfalls für Frauenbildung einsetzte und ab 1875 die erste eigene Frauenzeitschrift  Ženske listy (Frauenblätter) herausgab.

Man fragt sich, ob es um 1900 in Deutschland viele oder überhaupt Schulen gab, die sich mit den Portraits von Frauenrechtlerinnen schmückten. Das hat was mit dem Selbstverständnis des tschechischen Nationalismus, der sich nicht zuletzt aus dem Gefühl speiste, dass man in Böhmen wirtschaftlich, sozial und kulturell über dem als rückständig empfundenen Habsburgertum stand. Zumindest gefühlt… Als progressiv sahen sich auch die Männer, die auf der Straßenseite zur Kodanská zu ihrem Recht kommen. Auch hier werden wieder drei Repräsentanten des tschechischen Geisteslebens in Böhmen vorgestellt. Gab es hier etwa schon die 50:50-Frauenquote für Stuckkunstwerke?

Es beginnt mit Josef Jungmann (erwähnten wir u.a. hier), dem „Vater der tschechischen Sprache“. Er verfasste das erste Tschechisch-Deutsche Wörterbuch, das in den Jahren 1834–39 erschien. Je länger die Habsburger-Herrschaft dauerte, so empfand man, desto mehr sank das Tschechische zur bloßen „Bauernsprache“ herab. Sprache war für Jungmann und seine Schüler auch eine Frage politischer Emanzipation. Entsprechend fehlt sein Bild auch nie, wenn es um nationale Kulturikonen der Tschechen geht.

Der Nächste: Svatopluk Čech (auch hier). Der war Schriftsteller und Dichter, der sowohl für satirische Romane (z.B. Die Ausflüge des Herrn Brouček von 1888/89) als auch etwas monumentale Historienromane bekannt war, die immer irgendwie den tschechischen Patriotismus anfachen sollten. Heute gehört er sicher nicht mehr zu den meistgelesenen Autoren des Landes, aber bis tief ins 20. Jahrhundert war er so etwas wie der Nationalschriftsteller schlechthin und Garant für Auflagenstärke.

Und dann darf natürlich nicht der Großmeister der tschechisch-böhmischen Geschichts-schreibung fehlen: František Palacký (den wir u.a. hier und hier erwähnten). Mit seiner 5-bändigen Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren (ab 1836), die er 1848 dann in Tschechisch als Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě veröffentlichte, definierte er in nicht zu unterschätzenden Maße das tschechische Nationalverständnis (mit ein paar bedauerlichen anti-deutschen Untertönen).

Es war in der Zeit um 1900 nicht ungewöhnlich, dass tschechische Nationalliteraten auf öffentlichen Fassaden präsentiert wurden. Und die alte Realschule ist ein schönes Beispiel dafür. Vor allem ragt die hohe Frauenquote deutlich heraus. Und das macht sie ungewöhnlich.Und vielleicht hat die Fassade auch einen positiven Lerneffekt bewirkt. Wie dem auch sei. Die Höhere Realschule gibt es seit längerem nicht mehr. Das Gebäude wurde jeweils 1980 und 1996 gründlich renoviert und umgebaut. 1999 wurde die private Hochschule für Finanzen und Verwaltung gegründet, die dann hier einzog. Jetzt lernen hier Studenten viel über Geld, Recht, Wirtschaft, Steuern und vieles mehr. Und möglicherweise etwas weniger über Karolina Světlá, Božena Němcová oder Josef Jungmann. Aber dafür können sie sich ja die Fassade ihrer Hochschule anschauen.
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