Friedhof Holešovice: Ein besonderes Stück böhmischer Kultur

Dicht an einer Eisenbahnlinie gelegen, ist der Friedhof von Holešovice (Holešovický hřbitov) an der Strojnická 307/2 in Prag 7 (Holešovice) weder der größte, noch der berühmteste unter den Prager Friedhöfen. Aber er ist eine wirkliche Besonderheit, weil er ein einzigartiges Stück tschechischer/böhmischer Begräbniskultur repräsentiert. Hier auf einer Fläche von 8.800 Quadratmetern gibt es nämlich nur Urnengräber und es finden folglich keine Erdbestattungen statt – und das seit der Gründung des Friedhofs im Jahre 1873. Das ist schon recht ungewöhnlich.

Viele Kulturen kennen die Feuerbestattung, aber in der Mitte Europas hatte sie Schwierigkeiten, sich als eine übliche und legale Methode des Begräbnisses durchzusetzen. Im katholischen Habsburgerreich spielten gerade die böhmischen Kronlande dabei eine wichtige Rolle. Denn das Verbot der Feuerbestattung hatte Tradition. Karl der Große hatte – offenbar in Übereinstimmung mit der Kirche – im Jahre 786 festgelegt, dass für einen Christen die Erdbestattung die einzig heilsbringende und legale Form der Beerdigung sei. Andere Religionsgemeinschaften, etwa die Buddhisten sahen das anders, aber im christlichen Europa hielt man sich auch fast 1000 Jahre an des Kaisers Anordnung. Dann kam die Aufklärung und damit vor allem die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Seuchenverbreitung und Hygiene, die zu einer Enttabuisierung der Feuerbestattung führten. Auch sozialpolitische Argumente spielten eine wichtigere Rolle, waren doch Erdbestattungen gerade für ärmere Familien oft ruinös unerschwinglich. Immer mehr atheistische Freidenker forderten eine Aufhebung des Feuerbestattungsverbots. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gründeten sich zahlreiche Feuerbestattungsvereine engagierter Bürger, in Österreich etwa 1885 der Verein Die Flamme.

Aber was machte den Fall Böhmens so besonders? Nun, innerhalb des Habsburgerreichs war Böhmen früh der industrialisierteste Teil. Zudem war es auch eine Frage der Ehre für liberale tschechische Nationalisten, die im 19. Jahrhundert immer mehr den Ton angaben, sich bewusst gegen das (österreichische) Habsburgertum zu wenden, dass ja nach dem Dreissigjährigen Krieg Böhmen im Zuge einer Zwangskatholisierung unterworfen hatte. Folglich gab man sich gerne anti-katholisch und modernistisch. Mit der Forderung nach Feuerbestattungen konnte man dem so richtig provokativ Nachdruck verleihen. Es wundert daher nicht, dass 1752 die Einäscherung von Sophie, der Ehefrau des aufgeklärten Albert Joseph Reichsgraf von Hoditz und Wolframitz im Stammsitz Slezské Rudoltice (damals noch Roßwald) die erste im Europa der Neuzeit war. Und auch der Graf selbst, ein Freimaurer und Förderer der Gartenbaukunst, ließ sich nach seinem Tode im Jahr 1778 einäschern. Das war ein aufklärerisches Signal, setzte aber noch keinen allgemeinen Trend in der Begräbniskultur in Gang. Das Habsburgerreich war zu katholisch-konservativ regiert, als dass für einen solchen Reformtrend Platz war. Die Mehrheit der Bevölkerung fand sich damit wohl auch ab, denn fast überall war man streng religiös/katholisch.

Nur in den böhmischen Ländern nicht so richtig, aber dort musste man auf die Fortschritte außerhalb Kakaniens warten und auf Importmöglichkeiten hoffen. Immerhin stellte 1873 der in Padua lehrende Arzt Lodovico Brunetti in Wien erstmals seine Erfindung eines modernes Krematoriums vor. So etwas war notwendig, um Feuerbestattungen in größerem Umfang zu ermöglichen, was vor allen in den damals wachsenden städtischen Ballungszentren mit dem einfachen Scheiterhaufen, auf dem noch Gräfin und Graf Hoditz verbrannt wurden, nicht so recht praktikabel war. Aber solch ein Krematorium tatsächlich zu bauen und in den Massenbetrieb zu nehmen, war weiterhin im Habsburgerreich unddenkbar. Aber im benachbarten Sachsen bahnte sich Größeres an, als Friedrich Siemens in seiner Glashütte und Ofenfabrik einen Ofen zur Leichenverbrennung baute und tatsächlich eine Einäscherung durchführte. Um ein richtiges Signal zu setzen, war das nicht eine „Irgendwer“, sondern Katherine Dilke, die Frau eines prominenten liberalen Politikers aus Großbritannien, dem Unterstaatssekretär Sir Charles Dilke. Danach wuchs das Vereinswesen für Feuerbestattung noch einmal und es gab sogar erste Ansätze einer europäischen Bewegung. Schlag auf Schlag ging es dann.1876 wurde das erste Krematorium in Mailand eröffnet, 1878 folgte das deutsche Gotha, 1879 Woking in England, 1889 Zürich in der Schweiz. Nur im Habsburgerreich bewegte sich nichts, trotz etlicher agierender Vereine, die sich nach und nach gründeten.

Nun ja, seine Urne durfte man schon innerhalb Böhmens begraben lassen. Nur eben das Einäschern selbst ging nicht, weshalb sich progressive Verstorbene meist in Gotha verbrennen ließen. Es entstand, wenn man es salopp formulieren darf, eine Art Krematoriums-Tourismus. Aber im Laufe der Zeit nahm die Säkularisierung zu und vor allem gerieten nach den Friedhofsreformen unter Kaiser Josephs II. in den 1780er Jahren immer mehr Friedhöfe in kommunale statt kirchliche Hände. Die Friedhofskultur wurde säkularisiert. In der nördlich von Prag gelegenen Stadt Liberec (damals Reichenberg) begann es dann. Auf Betreiben progressiver Stadtpolitiker, wie etwa Václav Samánek, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Planung für das erste Krematorium in Angriff genommen. Die Behörden reagierten wie Behörden so reagieren. 1912 genehmigte man den Bau, aber nur wenn dann danach drinnen keine Einäscherungen stattfänden. So konnte man aber denn doch nicht mit dem Bauen beginnen. Auch dieses Hindernis überwand man und 1915 konnte man endlich mit dem Bau anfangen und schon im Jahr darauf machte man den ersten Brennversuch mit Tierkadavern. Dank schleppender Bürokratie konnte erst am 30. Oktober 1918 (zwei Tage nach der tschechoslowakischen Unabhängigkeit) die erste menschliche Leiche hier verbrannt werden. Pech hatte Initiator Samánek, der schon 1916 einem Herzinfarkt erlegen war, und deshalb in Gotha eingeäschert werden musste, bevor er in Liberec sein Grab fand.

Aber, es war nicht nur das erste Krematorium (in Liberec Feuerhalle genannt) auf böhmischen Boden, sondern auch das erste im Habsburgerreich. Österreich war weit abgeschlagen, denn das erste Krematorium dort, die Feuerhalle Simmering in Wien, wurde erst 1922 eröffnet. Im internationalen Vergleich mochte man ein wenig hinterherhinken, aber im inner-kakanischen Wettbewerb hatten die Tschechen den Progressivitätswettbewerb in Sachen Begräbniskultur klar gewonnen. Ja, und dann war da noch – um auf das Thema hier zurückzukommen – der Friedhof von Holešovice, der ja für Urnenbegräbnisse vorgesehen und schon 1873 gegründet worden war. Wenig lässt sich über die Anfangszeit herausfinden, außer dass hier in einem Arbeiterviertel wohl anfänglich recht viele Eisenbahnarbeiter beerdigt wurden. Es war vielleicht kein Zufall, dass diese preisgünstige Art der Beerdigung sich erstmals in diesem Stadtteil in Form eines Friedhofs äußerte. Man kann hier nur vage Vermutungen anstellen, wie dieser Friedhof „gefüllt“ wurde.

Denn Krematorien gab es ja in Böhmen nicht (bis zur Eröffnung der Feuerhalle in Liberec). Vermutlich gab es Dank des in dieser Zeit verbesserten Eisenbahnnetzes kostengünstige Möglichkeiten, Leichen im Ausland einzuäschern und rückzuführen. Im nahen Sachsen stieg die Kapazität der Krematorien Dank neuer Bauten immer mehr an – etwa in Zittau 1909 oder in Dresden 1911. Es gab damals sogar Begräbniszüge (für fernere Destinationen), die erstmal in London 1854 eingesetzt wurden, und Begräbnisstraßenbahnen (für innerstädtische Überführungen). Ob es vereinzelt noch Scheiterhaufenverbrennungen gab? Zumindest am Anfang hat man noch einige wenige „normale“ Gräber angelegt. Neben den 2300 Urnengräbern und 1667 Fächern in den Kolumbarien finden sich immerhin noch 12 ältere Gräber auf dem Friedhof von Holešovice verzeichnet. Das oberhalb rechts abgebildete Mausoleum (in dem man keine kleinen Fächer sehen kann) könnte ein solches traditionelles Grab sein. Aber dieses Kapitel ist, was neue Beerdigungen angeht, schon lange vorbei. Nur und ausschließlich Urnengräber dürfen angelegt werden!

Obwohl der Friedhof mit 0,8 Hektar recht klein ist (im Vergleich dazu: Die zentralen Prager Olšany Friedhöfe (Olšanské hřbitovy) haben 50,17 Hektar Fläche zur Verfügung. Trotzdem sind hier sehr viele Menschen begraben. Das liegt in der Natur des Sache, denn in dem dreickecksförmigen, auf zwei Höhenebenen hangwärts gelegenen Areal wird ja eine sehr platzsparende Begräbniskultur gepflegt. Dabei hat man trotzdem auf eine sehr traditionelle Gestaltung wert gelegt. Dazu trägt natürlich der schöne alte Baumbestand bei, aber auch die Grabgestaltung selbst. Nur ein kleiner Teil der Urnen ist in den meist etwa stilarm und lieblos aussehenden Kolumbarien (also kleinen Fächern, die in Reih und Glied in Wände eingelassen sind). Die meisten befinden sich in richtigen Gräbern mit normalen Grabsteinen vor denen auch Grabplatten liegen. Die sehen prinzipiell wie die von traditionellen Erdgräbern aus, sind aber deutlich kürzer, weil ja keine großen Särge darunter liegen. Stattdessen sind unter den Platten Urnenfächer, die so auch große Familiengräber ermöglichen. Im ältesten Teil des Friedhofs (dem oberen Teil) gibt sogar einige wenige Mausoleen.

Es handelt sich um keinen Prominentenfriedhof, wie es etwa der Nationalfriedhof auf dem Vyšehrad (den beschrieben wir hier). Die noch halbwegs bekanntesten Persönlichkeiten, die hier ihre letzte Ruhe fanden, sind der Schauspieler und Synchronisator Bedřich Šetena, der moderne Architekt Jan Zázvorka, die wegen ihres unkonventionellen Lebenstils stets unter den Kommunisten aneckende Jazz- und Chansonsängerin Eva Olmerová (wohl die bekannteste Persönlichkeit unter den hier Begrabenen) oder der Kaufhausgründer Jaroslav Brouk. Das Grabdenkmal, das wohl die meiste Besucher anzieht, ist jedoch das für die Gefallenen des Prager Aufstands gegen die Nazis im Mai 1945 und die Tschechen, die im Exil auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten (Bild rechts). Vor der großen Grabtafel mit unzähligen Namen, die sich hinter einem großen quadratischen Urnenfeld befindet, kann man stets ein wahres Blumenmeer besichtigen. Man hält das Erbe derer, die sich den Nazis widersetzten, offenbar mit viel Liebe aufrecht. Neben dem Eingang befindet sich noch ein kleines Gebäude im schlichten neogotischen Stil mit Dachreiter. Drinnen sind eine kleine Beerdigungskapelle und die Friedhofsverwaltung untergebracht.

Wenngleich reine Urnenfriedhöfe wie dieser in Europa weiterhin eher eine Seltenheit sind (der einzige sonstige dieser Art in Prag ist der 1954 eingerichtete Krematoriumsfriedhof in Motol), ist das Thema Feuerbestattung heute weitgehend enttabuisiert. Die Evangelische Kirche, die immer ein bisschen weniger dogmatisch war, erkannte sie 1920 (zumindest in Deutschland) an. Die Katholische Kirche brauchte bis 1964, dann gab der Papst grünes Licht. Das säkulare Böhmen bzw. Tschechien sah sich stets als Speerspitze der Entwicklung – die eingeäscherte Gräfin im Jahre 1752, das Krematorium in Liberec 1915 und eben auch der Friedhof von Holešovice zeugen davon. Ist das der Grund, warum gerade in Tschechien besonders viele Krematorien geradezu architektonische Meisterwerke sind, etwa das in Pardubice, das in Nymburk oder das in Prag Vinohrady (wir berichteten hier). Kein Land kann mit so schönen Krematorien aufwarten wie Tschechien! Die Feuerbestattung hat auch ihren Platz in den Künsten. Der viel beachtete, 2019 erschienene Roman Winterbergs letzte Reise (Winterbergova poslední cesta) von Jaroslav Rudiš dreht sich immer wieder um Erinnerungen, die mit der Feuerhalle von Liberec verbunden sind. Zum wahren Klassiker wurde der auf dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Ladislav Fuks (1967) basierende Film Spalovač mrtvol (Der Leichenverbrenner) von 1968 mit dem großen Rudolf Hrušínský in der Hauptrolle – eine groteske und finster schwarze Politparabel, die in der Zeit des Nazi-Reichsprotektorats spielt, aber verdeckt die Tyrannei der Kommunisten offenlegt – weshalb er nach dem Ende des Prager Frühlings aus den Kinos verschwand. Der kulturelle Stellenwert, den dieses Thema im Lande innehat, lässt den Friedhof von Holešovice zu einem interessanteren Ort werden als es auf den ersten Blick den Anschein hat. (DD)

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