Hier kommen die tschechischen Schulbücher her

„Me turbidae aetatis ars ecce hanc fecit“, so steht es oben auf dem Giebel des Gebäudes. Ist Latein und klingt dadurch schon per se gebildet: „Mich hat die Kunst eines stürmischen Zeitalters gemacht“. Und so was passt, denn das Gebäude in der Ostrovní 126/30 (Neustadt) hat in der Tat viel mit Bildung zu tun. Es handelt sich um das alte k.k. Schulbuchlager und Buchdruckerei (C. k. sklad školních knih a knihtiskárna) in Prag.

Der vordere Teil, den wir hier sehen, wurde im Jahr 1900 im Stil des Neobarock nach den Plänen des Architekten Viktor Beneš erbaut, der gerne ab und an Gebäude mit Bildungsbezug entwarf, etwa im Jahre 1901 das Gebäude der Deutschen Technischen Hochschule in Prag. Bevor hier dieses ausgesprochen groß geratene Bauwerk entstand, befanden sich hier vier größere Häuser aus dem Mittelalter. Von denen ist rein gar nichts mehr erhalten. Es ist quasi nichts über sie herauszufinden. Möglicherweise haben aber die Schöpfer der üppigen Stuckaturen an der neuen neobarocken Fassade hier eine Mutmaßung hinterlassen. In einer schönen Kartusche im ersten Hof sieht man ein vergoldetes Bierfass mit viel wucherndem Hopfen und Getreide (kleines Bild oberhalb links).

Daneben wird der (wieder einmal lateinische) Text in einer anderen Kartusche (Bild rechts) geradezu explizit: „Quae quondam Bacchum vilis caupona tenebam nunc musas omnes hospitio accipio“, heißt es da. Also: „Welches ich einst als billige Kneipe beherbergte, nehme nun alle Musen in Gastfreundschaft auf.“ Oder so. Es kann also sein, dass hier vor dem Schulbuchlager eine florierende Bierschänke oder eine Braugaststätte betrieben wurde. Es kann aber auch sein, dass da bei den stets durstigen Stuckateuren, die ja jetzt im Dienste dröger Bildung werkelten, der Wunsch der Vater des Gedankens war.

Aber worum ging es den tatsächlich bei diesem Schulbuchlager? Kaum ein Teil von Kakanien war so bildungsbeflissen wie Böhmen. Man denke an die Gründung der Karlsuniversität 1348. Die Habsburger gaben der Sache jedoch einen richtigen Anschubs. Die Rede ist von der von Kaiserin Maria Theresia dekretierten Allgemeinen Schulordung von 1774. Die war ein Teil des typisch aufklärerischen Bestrebens, den Elementarunterricht für die breiten Volksschichten zu verbessern und dem Gros der Menschen überhaupt erst Zugang zu Schulbildung zu ermöglichen. Sie sah auch vor, dass Lehrinhalte – und damit auch Schulliteratur – klaren Standards gehorchten, die Verlage einzuhalten hatte – inklusive der Anordung, mindestens 1000 Exemplare kostenlos an Mittellose abzugeben. Im böhmischen Teil des Reiches ging die dort einberufene Schulkommission in einem Anfall von Etatismus noch weiter. Der Staat wurde selbst zum Schulbuchproduzenten. Das öffentliche Verlagsunternehmen wurde von Anfang salopp „Schulbuchlager“ genannt.

Die Gründung erfolgte schon am 10. juni 1775. Die Institution erwies sich als sehr langlebig. Und sie bekam im Laufe der Zeit immer mehr zu tun. Ab 1866 wurde das dreigliedrige Schulsystem eingeführt und drei Jahre später die Schulpflicht auf acht Jahre verlängert. Und das hieß: Mehr Bücher wurden gebraucht und damit auch höhere Druck- und Lagerkapazitäten. Deshalb ließ man also im Jahre 1900 das ausgesprochen groß dimensionierte dreistöckige neobarocke Gebäude auf dem neu gekauften Grundstück in der Ostrovní bauen. Der Bildungsboom des späten Habsburgerreichs musste ordentlich bewirtschaftet werden. Und damals wollte man wohl einfach viel in Bildung und auch Repräsentation investieren.

Es handelt sich bei dem „Schulbuchlager“ zweifellos um eines der wuchtigsten und prachtvollsten Neobarock-Gebäude Prags. Und das will angesichts des Angebots etwas heißen! Auch die Dekoration mit korinthischen Pilastern, Stuckumrahmungen für die Fenster und unzähligen ebenfalls aus Stuck gestalteten floralen Mustern und kleinen Medaillons mit antiken Portraits kann sich sehen lassen. Sie repräsentiert visuell den von klassischen Idealen bestimmten Bildungskanon der Zeit des Habsburgerreichs – deshalb auch das viele Latein. Das Ganze setzt sich nahtlos in dem ebenfalls imposanten (ersten) Innenhof fort, mit seinen schönen Eingängen und Treppen.

Und der Bildungsaufschwung ging weiter. Als 1918 das Habsburgerreich verschwand und die Erste Republik kam, musste von Prag ein multilingualer Staat mit Slowaken, Deutschen, Ungarn und transkarpathischen Ruthenen bedient werden. Noch mehr und immer verschiedenere Bücher! Zudem gab es immer mehr neue Ansätze der Reformbildung. Kurz: Das Gebäude war riesig, aber für die neuen Aufgaben immer noch zu klein. In den Jahren 1932 bis 1939 wurde das Gebäude um einen weiteren Hinterhof und umliegende Gebäudeflügel erweitert. Als Architekten heuerte man einen Pionier der Moderne an:  Alois Dryák, über den wir ja schon hierhierhierhier hier und hier berichtet haben. Die nun völlig andersartige Architektur dieses Teils des Komplexes dient primär der Erweiterung der Druckereikapazitäten. Dryáks Entwurf wirkt auf den ersten Blick nicht so spektakulär wie der Neobarockbau von Beneš, ist aber dennoch als architektonisch bedeutendes Werk des Prager Funktionalismus zu bewerten.

Das neue Gebäude verbindet das alte Gebäude dann auch mit der Straße Opatovická. In der Opatovická 154/26 kann man dann auch die Außenfassade des nunmehr funktionalistischen neuen Baus von Drýak bewundern. Im Erdgeschoss des neuen Hauses hat sich heute übrigens – sehr passend! – ein großes und gutes Buchantiquariat angesiedelt (Bild links).

Wie dem auch sei: Irgendwie überlebte das Gebäude auf die düsteren Zeiten, in denen zuerst die Nazis (ab 1939) und dann die Kommunisten (ab 1948) das Schul- und auch das Schulbuchwesen in totalitärer Weise missbrauchten. Seit dem Ende des Kommunismus 1989 ist das Schulwesen wieder offener und freier geworden. Das tut der Sache gut. Und so residiert hier im ganzen Komplex heute primär der 1947 gegründete Staatliche Pädagogische Verlag (Státní pedagogické nakladatelství, abgekürzt SPN). Dessen Produkte kann man sehen und kaufen. Denn auf der Straßenseite zur Ostrovní befindet sich im Erdgeschoss ein Spezialbuchladen für Schulbücher namens Centrum učebnic (Lehrbuchzentrum), der die Produkte des Verlags führt (Bild unterhalb rechts).

In den Jahren 2002/2003 wurden Teile des Bauwerks (beide Komponenten – die neobarocke und die funktionalistische) renoviert und umgebaut. Es wurden neue Büroräume und Ateliers eingerichtet. Jetzt findet man hier nicht nur das staatliche Schulbuchwesen hier vertreten, sondern auch eine Vielzahl privatwirtschaftlicher Akteure. Die tschechische Ausgabe der Zeitschrift Vogue hat hier ihren Sitz und ebenso das Tonstudio Soundsquare. In einem der Ateliers im neuen Bauteil befindet sich das krative Designstudio Olgoj Chorchoj (das erwähnten wir bereits hier). Eigentlich ist das schon eine ganz witzige Auswahl. Man dachte sich vielleicht, wenn schon (immerhin seit 1775!) Staatsbürokraten das Schulbuchwesen des Landes verwalten, sollte sich drumherum wenigstens ein kreativ inspirierendes Umfeld im Gebäude befinden. (DD)

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