Historistisches Ensemble für das moderne Prag

Der Historismus – lange unter Kunsthistorikern als unoriginell und rückwärtsgewandt verpönt – hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Anerkennung erfahren. Wohl zu Recht, denn den Architekten dieses Stils gelang es tatsächlich, die Anforderungen und Vorgaben modernster Technik mit einer in Wirklichkeit sehr originellen Aufbereitung historischer Ästhetikmuster zu kombinieren. Die meisten großen europäischen Prachtstraßen (etwa das Boulevard Haussmann in Paris oder die Wiener Ringstraße) wären ohne den Historismus geradezu undenkbar. Der Historismus bedeutete in Wirklichkeit eine städteplanerische Revolution, die Europas Metropolen bis heute definiert.

In Prag gibt es kaum einen besseren Ort, das zu studieren, wie das Masaryk Ufer (Masarykovo nábřeží). Hier schuf der Architekt und Bauunternehmer František Jiskra (der sich gerne innen in Stuck verewigen ließ, wie das Bild links zeigt) in den Jahren 1906 bis 1908 ein Ensemble aus fünf fünfstöckigen Wohn- und Mietshäusern, das wie kaum ein anderes dazu angetan ist, die Idee des Historismus in der Architekur zu verdeutlichen. Es war die Zeit wachsender Bevölkerung und wachsenden Wohlstands in Prag. Viel qualitätsvoller Wohnraum musste geschaffen werden. Neue Flächen erschlossen und alte Stadtviertel abgerissen, um Neuem Platz zu machen – meist mehrstöckige Mietsbauten, die man allerdings in das Stadtbild einzupassen versuchte. Jiskras Gebäude sind Beispiele dafür.

Die neue Bauweise war technisch state of the art. Man bediente sich der in den 1880er Jahren entwickelten Stahlskelettbauweise, die den schnelleren Bau immer höherer Gebäude ermöglichte. Stabil und vergleichsweise preiswert ließ sich so moderner und komfortabler Wohnraum schaffen. Das war das Bauen des Industriezeitalters. Jiskra war darin Meister und so verdankt man ihm in der ganzen Stadt viele gößerere Luxusreihenhäuser, wie etwa die beiden recht ähnlichen neo-gotischen Mietshäuer in der Vinohradská 1595/31 und 1596/29, die man im Bild rechts sieht. Die Idee war eine Massenarchitektur mit pompöser historisierender und am Ende auch individueller künstlerischer Gestaltung.

Womit wir wieder bei Jiskras bekanntestem Werk sind, dem Fünferblock am Masaryk Ufer. Der fängt eigentlich schon am Jirásek Platz (Jiráskovo náměstí) an, denn es handelt sich um ein Eck-Ensemble eines großen Häuserblocks, und zwei der Häuser ragen schräge vom Ufer weg in den Platz hinein. So gibt es also eine Südfront (zum Platz) und eine Westfront (zum Ufer). Beide Seiten sind von ihren Proportionen (vom Stahlskelett vorgegebenen) ähnlich, haben aber eine stilistische unterschiedliche Fassadendekoration, einmal neo-barock (Platz) und einmal neo-gotisch (Uferseite). Das Eckhaus (Bild links) ist dabei beidseitig neo-barock.

Die beiden Häuser am Jiráskovo náměstí 2013/2 und 2014/2 sind – wiederum durch die industrielle Bauweise vorgegeben – im Kern völlig identisch, wie man im Bild rechts sehen kann. Die Fassadengestaltung und die Balkone tragenden Atlanten sind stilistisch vage an das Obere Belvedere in Wien angelehnt, das 1723 durch den Architekten Johann Lucas von Hildebrandt erbaut wurde. Jiskra hatte also Künstler unter Vertrag, die sich in Sachen Architekturgeschichte gut auskannten. Man sieht hier sorgfätiges Kunsthandwerk. Das erwarteten die künftigen Bewohner auch, denn die großzügig geschnittenen Wohnung drinnen waren für ein gehobenes Publikum gedacht.

Das gab es hier nicht immer, denn das Areal hier am Ufer war früher eher ein Armenviertel. Das Ufer wurde hier erst 1903 befestigt und war zuvor regelmäßig von Hochwasser betroffen. Hier lebten vor allem Flößer (wir berichteten u.a. hier) und andere Menschen (Fischer zum Beispiel), die dem Fluss ihre Lebensgrundlage verdankten. Und die wurden selten reich. Mit der Uferbefestigung setzte die Gentrifizierung ein, wie man das heute wohl nennt. Und die Wohnlagen mit Blick über Moldau oder Burg musste man sich wirklich leisten könnten – auch wenn sie im Kern in Industriebauweise errichtet wurden. Aber in der künstlerischen Dekoration gab es in Grenzen das „Besondere“, das die neuen Bewohner schlicht erwarteten.

Kommen wir zu den Häusern des Blocks am Masaryk Ufer. Das heißt erst seit 1990 nach dem ersten demokratischen Präsidenten der Tschecho- slowakischen RepublikTomáš Garrigue Masaryk.Die Geschichte der Namensbezeichnung ist so etwas wie ein Gang durch die Geschichte Böhmens. Ursprünglich hieß das Ufer nach Kaiser Franz I. Františkovo nábřeží (Franz Ufer). Zu den vielen späteren Namensgebern gehörten u.a. so finstere Gestalten wie der Naziverbrecher Reinhard Heydrich (natürlich nur bis 1945) und der erste kommunistische Schreckensherrscher der Tschechoslowakei, Klement Gottwald (ab 1948). Die Bewohner können nun jedoch aufatmen, denn Masaryk war gewiss eine demokratisch äußerst integere Gestalt, so dass sich niemand unter den Mietern seiner Adresse schämen muss.

Die drei verbliebenen Häuser Masarykovo nábřeží 2015/42016/6 und 2017/8 sind – ebenso wie die Am Jirásek Platz recht einheitlich gebaut und folgen sogar im wesentlichen deren (durch die gemeinsame Stahlskelettstruktur weitgehend vorgegebenen) Bauplan, von außen u.a. sichtbar an den immer dreigliedrigen Erkern mit Balkonen. Nur stilistisch gesehen haben wir es jetzt mit neo-gotischer Architektur zu tun. Das setzt sich auch nach Innen fort, wie man im Bild links an dem herrlich verschörkelten Spitzbogen im Treppenhaus von Haus 2015/4 sehen kann.Überhaupt lohnt es sich, sich ein solches Haus einmal von innen zu betrachten, wenn sich rein zufällig die Gelegenheit dazu bietet.

Schon der Eingangsbereich wurde vom Architekten so angelegt, dass er den Eindruck, es handle sich um ein bloßes Mietshaus, großzügig überspielt. Die Treppenflucht reicht bis über den ersten Stock und wirkt dabei so weitläufig, wie man es sonst von richtigen Palästen gewöhnt ist. Teilweise werden neobarocke Elemente integriert (etwa die Rundbögen und die Friese, wie man sie im Bild rechts sieht), aber insgesamt dominiert ein opulenter gotischer Stil. Die sehr verfeinerten Stuckaturen und Holzschnitzereien (zum Beispiel an den Türrahmen, wie man im großen Bild ganz oben sieht) sind Meisterbeispiele dafür und lehnen sich an die Kunst der Spätgotik des frühen 15. Jahrhunderts an.

Die Apartments in den Gebäuden wzurden modernen Wohnbedarf angepasst – wirklich wie im Mittelalter hausen wollte wohl kein Mieter. Sie sind großzügig geschnitten und komfortabel. Wichtigstes Asset war (und ist immer noch) der Blick, den man von hier aus über die Moldau hin zur Burg hat. Die Stuckdekoration wurde weniger überladen gestaltet als Außenfassade und Treppenhaus (siehe Bild links), was sicher den Bedürfnissen der Mieter auf Eingengestaltungsmöglichkeiten entgegenkam. Anscheinend waren die Stuckornamente – meist florale Motive – für alle drei Häuser Jiskras am Masarykufer standardisiert und wurden in vorgegebenen Formen gegossen.

Und das ist wahrscheinlich das, was die Originalität der Historismus à la Jiskra ausmacht, nämlich die durchdachte Kombination von Technik und Standardisierung in Kombination mit städtebaulich abgestimmten und individuell angepasstem Dekor, wo dies sinnvoll erschien. Sehr schön ist das bei den Außenfassaden zu erkennen, die ja in ihrer Grundstruktur alle identisch gleich sind, aber sich durch die indivduelle Gestaltung zu einem sehr abwechslungsreichen Ensemble summieren. In der Bildfolge oberhalb sieht man zum Beispiel die drei unterschiedlichen Türstürze der Häuser (v.l.n.r.) 2015/4, 2016/6 und 2017/8.

Um die eigentlich standardisierten Fassaden zu beleben, wurden hier sogar eklektische Rückgriffe auch Stilelemente von Renaissance und Barock (etwa Girlanden) und im Falle von 2017/8 sogar des Jugendstils in das neo-gotische Gesamtbild eingefügt. Diese Unterordnung von Stilreinheit unter den von visuellem Effekt ist typisch für den Historismus, der nicht nur Altes kopieren wollte, sondern in Wirklichkeit etwas Neues war. Das Ensemble Jiskras verfügt zwar über eine gewisse Einheitlichkeit (als Wohnblock), ist aber lebhaft und ohne Monotonie gestaltet.Und welche moderne Architektur hätte denn gleichzeitig den städteplanerischen Bedürfnissen einer wachsenden Metropole des Industriezeitalters und den Bedürfnissen eines alten Stadtbildes (mit modernen Mitteln) genüge tun können?

Was da entstand, war kein bloßes Imitat, sondern eine neue Antwort auf neue Herausforderungen. Das moderne historistische Stadtbild bedeutete eine geradezu revolutionäre Neugestaltung von Städten. Zudem erlaubte der Eklektizismus im Stil ein hohes Maß an kreativer Spielerei im Dekor, das den Vorwurf der Unoriginalität letztlich ins Leere laufen lässt. Der putzige Teufel, der sich an Grotesken in gotischen Kathedralen anlehnt, im Bild links (aus dem Haus 2015/4) mag als besonders hübsches Beispiel dienen. Der Rückgriff auf einen historischen Stil kann hier durchaus als ironisch begriffen werden.

Jiskra hat übrigens nicht den gesamten Häuserblock geplant. Haus 2018/10 (Ecke Myslíkova), das die Front am Ufer zur Nordseite abschließt, ist zwar in den Proportionen dem Ensemble angepasst, aber weist auf einen großen Paradigmenwechsel in der damaligen Architektur hin. Als Jiskra seine Häuser plante, war der Historismus gerade dabei, völlig aus er Mode zu kommen. Der Jugendstil, der stadtplanerisch ähnlich den industriellen Wohnbedarf zu decken begann, lief ihm den Rang ab, Das 1908 von dem Bauunternehmer Richard Prauss nach den Plänen des Architekten František Cuc erbaute fünfstöckige Haus ist bereits im geometrischen Jugendstil gebaut, der abermals die Metropole verändern sollte. (DD)

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