Hussitenkult in Žižkov

Voller Glaubensernst schaut er oben vom Dachgesims des dreistöckigen Wohn- und Mietshauess in der Řehořova 1003/34 herab – eingefasst von feinstem Jugendstil: Jan Hus, der große Frühreformator Böhmens. In seinen Predigten prangerte er die Verweltlichung der Kirche, den Ablasshandel, die politische Macht und das Streben nach Reichtum an.

Und Hus (links noch einmal auf der Mittelhöhe der Fassade) predigte volkstümlich in Tschechisch und nicht in Latein. Als Rektor der Prager Karlsuniversität spielte er im Geistesleben (und in der Politik) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Kaiser Sigismund versprach Hus sicheres Geleit, als Hus 1415 zum Konzil von Konstanz vorgeladen wurde, um sich gegen den Vorwurf der Ketzerei zu verteidigen. Der Kaiser brach sein Wort und Hus wurde umgehend auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Damit hatte Böhmen einen Märtyrer. Dessen Anlitz schaut in Prag von vielen solchen Häuserfassaden des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf uns herab – besonders hier im Stadtteil Žižkov.

Jan Hus und das Hussitentum des frühen 15. Jahrhunderts spielen nämlich im Selbstverständnis der Tschechen weniger als religiöse Reformbewegung eine Rolle, denn als nationale Identifikationsprojektion. Irgendwie war er eine Symbolfigur für eine tschechische Identität jenseits der Habsburger „Fremdherrschaft“ und ihrem demonstrative geförderten Katholizismus. Und auch das setzte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, in einer Zeit als der tschechische Nationalismus im habsburgischen Böhmen seinen Aufstieg erlebte. Dabei spielte der heutige Stadtteil Žižkov eine ausgesprochen exemplarische Rolle, wie man nicht zuletzt an dem hier vorgestellten Haus sehen kann, das in mancher Hinsicht als recht typisch gesehen werden kann.

Žižkov ist erst seit 1922 Teil Prags. Vorher ein kaum besiedelter Teil von Vinohrady war Žižkov erst 1876 eine eigenständige Stadt geworden. Der erste Bürgermeister, der die Eigenständigkeit energisch betrieben hatte, wurde Karel Hartig, ein Bauunternehmer, begeisterter tschechischer Nationalist und Freund zahlreicher der damaligen liberal-nationalen Akteure, wie etwa der Komponist Bedřich Smetana oder der Publizist Julius Grégr. Und Hartig hatte sich ganz besonders dem hussitischen Nationalerbe verschrieben. Das fing schon beim Namen der Stadt an. Schon 1869 hatte Hartig noch als Stadtrat in Vinohrady diesen Teil nach dem großen hussitischen Heerführer Jan Žižka benennen lassen, der hier auf dem Vítkovberg im Jahre 1420 einen seiner ersten großen Siege über die kaiserlich-katholischen Kreuzfahrer, die in Böhmen eingefallen waren, errungen hatte. Und der einäugige Žižka war für tschechische Nationalisten in Böhmen fast so eine Identifikationsfigur wie Jan Hus daselbst (siehe diesen früheren Beitrag). Beide gehören zusammen, weshalb kann hier in Žižkov ihr Konterfei fast an jeder Ecke finden kann.

Das neue Žižkov war für Hartig die ideale Plattform für recht dezidiert anti-habsburgische Aktionen im Gewand eines Hussitenrevivals. Schon 1869 hatte er anlässlich des 500. Geburtstags von Jan Hus ein „Volkslager“ mit hunderten Teilnehmern auf dem Vítkovberg organisiert, das wohl so aus dem Ruder lief, dass er für 10 Tage inhaftiert wurde. 1882 gründete er einen Verein für ein Nationaldenkmal mit Žižkastatue (eine Idee, mit deren Realisierung man erst 1928 – lange nach dem Tod Hartigs – begann). Und 1890 initiierte er zusätzlich den Verein für den Bau des Denkmals von Magister Jan Hus (Spolek pro zbudování pomníku Mistra Jana Husa), das dann 1915 (ebenfalls nach Hartigs Tod) tatsächlich zentral auf dem Altstädter Ring aufgestellt wurde. Alles das hatte eine nicht zu unterschätzende landesweite politische Bedeutung. Hussitennostalgie und Nationalismus wurden so zuz einer Einheit verschmolzen. Nicht umsonst wählte die 1918 von den Habsburgern unabhängig gewordene Tschechoslowakei das Hus’sche Motto Pravda vítězí (Die Wahrheit siegt) zum Wappenspruch,

Und es beeinflusste natürlich auch den Stadtteil selbst. Hartig sorgte dafür, dass nicht nur der Stadtname, sondern auch alle wichtigen Strassen- und Platznamen einen dezidiert hussitischen Anstrich bekamen, etwa die Štítného, Prokopova, Táboritská, Husitská und etliche mehr. Unter ihm wuchs Žižkov als Industriezentrum und es gab um 1890 bereits über 750 Häuser (von 354 im Jahr 1875), von denen rund 60 von seiner Baufirma erbaut wurden. Und die erhielten fast alle hussitisch inspiriertes Dekor und hussitische Namen, wie etwa das bekannteste von ihnen, das Dům U Jana Husi z Husince (Haus zum Jan Hus aus Husinec – wobei es sich bei Husinec um Hus‘ Geburtsort handelt) in der Husitská 191/47, an dessen Fassade sich auch eine der ersten großenHus-Statuen Böhmens befand. Das konnte Hartig tun, weil das Protestantenpatent Kaiser Franz Josephs erstmals auch nicht-katholische öffentliche religiöse Manifestationen erlaubte, die vorher von den Habsburgern mit eiserner Faust unterdrückt wurde. Unter dem Deckmantel dieser neuen Religionsfreiheit ließ sich nun auch nationalistische (anti-österreichsiche) Agitation betreiben – wozu man Hartig nicht zweimal auffordern musste.

Ob das hier vorgestellte dreistöckige Wohnhaus in der Řehořova 1003/34 noch ein Werk Hartigs als Bauunternehmer war, kann man getrost in Frage stellen. Denn als es 1902 gebaut wurde, war Hartig länger nicht mehr politisch und unternehmerisch aktiv. Er starb 1905. Keines seiner Häuser wurde in dem hier präsentierten Jugendstil erbaut, für den das Haus eines der frühesten Beispiele ist. Aber es zeigt: Sein neo-hussitisches Erbe blieb erhalten. Es war besonders in Žižkov, aber auch andernorts für viele Häuserbauer ein persönliches architektonisch konserviertes Bekenntnis zum tschechischen Patriotismus geworden, das weite Verbreitung fand. Und daher sieht man hier zwischen den typischen Jugendstil-Ornamenten auf der Fassade abwechseln die in Stuck gefassten Profilportraits von Hus und Žižka, dem Lokalhelden von Žižkov. Außen auf der Fassade sieht man unterhalb des Hus-Portraits noch in Stuck Soldaten in hussitischer Rüstung (Bild rechts oberhalb), die entschlossen dem Schlachtgetümmel oben auf den Vítkovberg entgegensehen.

Im Treppenhaus (nicht öffentlich, aber im Zuge einer Wohnungsbesichtigung betreten) tritt uns dann als Stuckornament der eigentliche Held Žižkov entgegen, Jan Žižka, der die Hussitenheere bis zu seinem Tod 1424 von Sieg zu Sieg führte – Dank überlegener Strategie, der Nutzung von Wagenburgen als mobilen Festungen und der Erfindung von Handfeuerwaffen. Der geniale Heerführer war schon in früher Jugend auf einem Auge erblindet (1421 verlor er sogar das zweite Auge), weshalb alle Darstellungen die Augenbinde als ikonographisches Merkmal verwenden. So auch hier in diesem Stuckmedaillon im Bild links.

Und dann ist da noch das zentrale Symbol des Hussitentums, der Laienkelch. Er prangt, auf einem schön eingefassten Schild übergroß auf dem Mittelpunkt der Fassade – so wie ihn Žižkas Kämpfer auch immer auf ihren Schild malten. Die Darreichung des Weins beim Abendmahl an die Gemeinde (und nicht nur an den Priester) war eine der wesentlichen Glaubensdifferenzen zwischen den Hussiten und den katholischen Traditionalisten. Heute verwenden übrigens alle reformierten Kirchen in Tschechien den Kelch als Symbol. Allerdings nutzt das gottlob heute keiner mehr als Vorwand für einen blutigen Glaubenskrieg wie in den Zeiten von Hus und Žižka. Aber eben nicht nur die Menschen reformierten Glaubens pflegen den Kelch und sein mit Hus verbundenes Erbe. Als das Haus hier erbaut wurde, drückte er auch das Selbstbestimmungsstreben der Tschechen im Habsburgerreich aus. (DD)

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