In Tschechien weiß man Otfried Preußler zu schätzen

Während eine deutsche Schule seinen Namen streicht, wird Otfried Preußler in seiner tschechischen Heimatstadt geehrt: Was das großzügige Liberec dem engstirnigen Pullach voraus hat.

„Der Gloria-Engel“ ist eine nur wenig bekannte Erzählung, die der Kinderbuchautor Otfried Preußler in den Achtzigerjahren für Erwachsene schrieb. Sie skizziert die Lebensgeschichte eines Sudetendeutschen aus Reichenberg, der im Zweiten Weltkrieg kämpft und in russische Kriegsgefangenschaft gerät, bevor seine Familie 1945 aus der Heimat vertrieben wird. Man findet sich im Chiemgau wieder, Trenkler heiratet seine Braut Inge und baut sich mit ihr eine neue Existenz auf. Was lange undenkbar schien, wird in den Sechzigerjahren möglich, der Besuch im ehemaligen Reichenberg, das jetzt Liberec heißt. Und eines Tages stehen die beiden vor der Tür von Trenklers Elternhaus, in dem jetzt Tschechen wohnen.

Es ist die kaum verhüllte Geschichte Otfried Preußlers selbst, der die Figur Trenkler auch in anderen Texten als sein Alter ego einsetzt. Der Germanist Jan Kvapil von der Universität Ùsti nad Labem trug am vergangenen Dienstag Ausschnitte daraus vor, als dem Autor postum die Medaille seiner Heimatstadt verliehen wurde. Dafür hatte die Stadt das holzgetäfelte Trauzimmer des 1893 im Neorenaissancestil errichteten Rathauses geöffnet, das Licht fiel durch die prächtigen Glasfenster, auf denen allegorisch Gewerbetreibende der alten Tuchmacherstadt dargestellt sind, der Bürgermeister trug die schwere Goldkette seines Amtes, und dem hervorragenden gemischten Chor von Kindern im Grundschulalter hätte man gern noch länger zugehört.

Wir haben Preußler aus den Augen verloren

Die Stadt im Norden Böhmens warf einiges in die Waagschale, um einen Schriftsteller zu ehren, den sie lange Zeit aus den Augen verloren hatte: „Obwohl Otfried Preußler ein weltberühmter Autor ist, blieb er in seiner Heimatstadt viele Jahre am Rande des Interesses“, hieß es in der Laudatio, die von den beiden Wissenschaftlern und Bibliotheksmitarbeitern Františka Dudková Párysová und Marek Sekyra vorgetragen wurde. Sie sind den Spuren Preußlers in Reichenberg nachgegangen und haben einen Parcours erarbeitet, der vom Geburtshaus Preußlers über Schauplätze seiner Texte und das Elternhaus seiner Verlobten Annelies Kind im Villenviertel bis zur Rudolfschule führt, die der Grundschüler besuchte und 1987 in seiner Geschichtensammlung „Herr Klingsor konnte ein bisschen zaubern“ verewigte.

Erst in den letzten Jahren sei Preußler in Liberec wiederentdeckt worden, hieß es in der Laudatio, und das gilt im doppelten Sinn. Denn in Tschechien ist der Autor Preußler lange hinter den von ihm erschaffenen Figuren verschwunden, hier durch den Medientransfer ins bewegte Bild – Krabat wird mit dem wundervollen Animationsfilm von Karel Zeman verbunden, und die kleine Hexe mit einer populären Fernsehadaption. Vor allem aber hat es lange gedauert, bis das Leid der deutschsprachigen Bevölkerung, die wie Preußlers Familie nach 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde, ins Bewusstsein geriet und in jüngerer Zeit vermehrt erforscht und auch literarisch behandelt wurde.

Er akzeptierte die Vergangenheit

So nehmen die Laudatoren in Preußlers Geschichten, die im alten Reichenberg seiner Kindheit und in noch weiter zurückliegenden Zeiten spielen, „Traurigkeit und Nostalgie“ wahr: „Es war sicherlich nicht leicht für ihn, aber er schaffte es, die Vergangenheit zu akzeptieren und sich damit auseinanderzusetzen.“ Im übrigen gelte die Auszeichnung durch die Medaille der Stadt natürlich vor allem Preußler, sie könne aber auch als erster Schritt zu einer Ehrung weiterer deutscher Autoren aus Reichenberg verstanden werden.

Bemerkenswert ist das nicht nur als Ausdruck einer veränderten Sicht auf die ehemalige deutsche Bevölkerung der Stadt und ihre Geschichte. Die Ehrung steht auch im harten Kontrast zu der Diskussion um Preußler in Deutschland, wo ein bisher nach ihm benanntes Gymnasium im bayerischen Pullach lieber nicht mehr so heißen möchte und zur Begründung anführt, der Autor habe sich nicht genügend von seiner NS-Vergangenheit distanziert und außerdem in seinem Werk Konflikte durch Zauberei und Gewalt gelöst. Mit dem kuriosen zweiten Argument hielt man sich in Liberec nicht weiter auf. Zur Frage der NS-Vergangenheit sagte Anna Knechtel vom Adalbert Stifter Verein München in ihrer Ansprache, sie beeindrucke gerade Preußlers „Art, wie er sich über seine eigenen Fehler klar geworden ist. Krieg und mehrjährige Zwangsarbeit haben ihm die Augen geöffnet über das Dunkle, in das er hineingeraten war, als er als Jugendlicher Anhänger der NS-Ideologie war und begeistert in einen Vernichtungskrieg zog.“ Diese Auseinandersetzung sei, so Knechtel, eine literarische, schließlich sei im „Krabat“ die Schilderung eines „totalitären Systems“ unverkennbar, zu dem der Müller als „brutaler Diktator“ ebenso beitrage wie die Mühlknappen, die es um des eigenen Vorteils willen akzeptierten.

Für seinen Roman „Krabat“ erhielt Otfried Preußler 1972 den Jugendliteraturpreis.
Für seinen Roman „Krabat“ erhielt Otfried Preußler 1972 den Jugendliteraturpreis.SZ Photo

Wie großzügig die Betrachtung dabei von tschechischer Seite her tendenziell ausfällt, zeigt die Erwähnung von Preußlers Vater Josef, der in der Laudatio als „Lehrer, Chronist und Stadtarchivar“ erscheint, auch als wichtige Inspirationsquelle für den kleinen Otfried, was alles richtig ist, aber seine schlimmen deutschnationalen Ausfälle und seine üblen Hetzreden gegen Juden, Tschechen und Sozialisten unterschlägt. Auch der Namenswechsel des gebürtigen Josef Syrowatka, der sich mit seiner Familie in „Preußler“ umbenannte, wurde nicht erwähnt, dafür aber zurecht „die enge Verbindung zwischen Preußlers Werk und seiner nordböhmischen Heimat“ hervorgehoben.

Tatsächlich ist das ein entscheidender Punkt in Preußlers Laufbahn als Autor. Während in seinen früheren Arbeiten für Zeitungen oder fürs Radio Nordböhmen unterschwellig oder direkt allein für die deutsche Kultur in Anspruch genommen wird, fragen spätere Texte nach den Bedingungen, unter denen Deutsche und Tschechen zusammen- oder nebeneinander her gelebt haben. Und während Preußlers Geburtsregion für ihn und seine Familie jahrelang unzugänglich war, folgen auf den ersten Besuch in der Tschechoslowakei 1964 rasch weitere Fahrten, darunter 1966 die erste nach Liberec. In den unveröffentlichten Aufzeichnungen zu diesen Reisen notiert Preußler die Erkenntnis, dass ins alte Reichenberg seiner Kindheit kein Weg zurück führt. Und dass ihm und seiner Familie umso mehr bewusst wird, wie sehr man mittlerweile in Bayern verwurzelt sei.

All das findet sich konzentriert in der Erzählung vom „Gloria-Engel“ wieder, und die Entscheidung, gerade aus ihr vorzutragen, war sicherlich die beste in der Vorbereitung dieser Ehrung. Trenkler und Inge betreten das Elternhaus auf Einladung der jetzigen Bewohner, eines alten tschechischen Ehepaares, das den Bau vom Staat gekauft hat. Trenklers sehen die alte Einrichtung, die Teppiche, die Bilder an der Wand, das Klavier. Irgendwann wissen alle vier vor Beklommenheit nicht mehr weiter. Das löst sich, als Inge Fotos aus der neuen Heimat der Trenklers vorzeigt und damit demonstriert, dass es bei dem Besuch nicht um Rückgabeforderungen geht. Am Ende wünschen die Trenklers ihren Gastgebern „viele gemeinsame Jahre“ in diesem Haus. Als das in Liberec vorgelesen wurde, verstand man die Entscheidung der Stadt noch ein bisschen besser.

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