- Hans Weber
- November 1, 2024
Mit viel Groteskem vom Neobarock zum Jugendstil
Es war anscheinend die Zeit gekommen für Osvald Polívka, etwas Groteskes und Witziges, jedenfalls nichts Altes und Langweiliges zu machen. Das ist ihm bei der Gestaltung des Hauses Vojtěšská 230/19, Ecke Na struze, in der Prager Neustadt ohne Zweifel gelungen.
Denn irgendwie ist diese clowneske Gestalt im Narrenkostüm, die aus einem Loch in einer einen Erker tragenden Konsole wie eingemauert herauszugucken scheint, und die sich außen mit den Armen daran festzuklammern scheint, schon ebenso originell wie absurd. Daneben befindet sich eine zweite Konsole, in die aus unbekanntem Grunde auch ein Narr geraten zu sein scheint, der uns schelmisch einen Vogel zeigt. Der Architekt Osvald Polívka gilt heute zurecht vor allem als einer der architektonischen Großmeister des Prager Jugendstils (worüber wir u.a. hier, hier, hier und hier berichteten). Was wir hier sehen, ist aber eher ein Frühwerk. Der Jugendstil war ja primär eine Art Protest gegen den um die Jahrhundertwende von vielen Künstlern als steril wirkend empfundenen Historismus, der gerade in Prag vor allem in der Form von Neorenaissance oder Neobarock Jahrzehnte lang die bauliche Stadtentwicklung fast unangefochten dominiert hatte.
Als Polívka seine Architektenkarriere begann, lieferte er noch Entwürfe im – allerdings bereits recht unorthodox und verspielt daherkommenden – neobarocken Stil (Beispiele zeigten wir hier und hier). So hatte er es auch von seinem Lehrmeister Josef Zítek, dem die Welt mit dem Prager Nationaltheater eines der grandiosesten Werke des Historismus in Prag verdankt, erlernt. Das Haus in der Vojtěšská dürfte allerdings eines der letzten vom Barock bestimmten Werke Polívkas gewesen sein, Das dreistöckige (mit Mansarde sind es vier) Miets- und Wohnhaus wurde nach seinen Entwürfen in den Jahren 1900 bis 1902 für den Baumeister Antonín Novotný erbaut. Zumindest mir ist kein Haus aus der Zeit danach von ihm bekannt, das zunächst einmal, wenngleich nur auf den ersten Blick, klar dem Neobarock zuzuordnen zu sein scheint. Die einzelnen Elemente (die kleine Amorgestalt aus Stuck sei erwähnt, wenngleich das Laubwerk der Kartusche schon ein wenig jugendstilig daherkommt) und die Fassadenstruktur gehorchen noch fast vollständig den barocken Stilvorgaben.
Aber gerade die dekorativen Elemente der Fassade zeichnen sich durch eine überbordende Phantasie aus und transzendieren bereits die Formsprache des Neobarock. Im Grunde hat man es mit einem sich barock gebenden Vorläufer des bereits wenig später (genauer: 1904) durch Polívka vollendeten Jugendstil-Kaufhauses Dům U Nováků (Haus zu Novak) zu tun, über das wir schon hier berichteten, und das sich ebenfalls in der Neustadt befindet. Auch hier wimmelt es von sonderlichen Kreaturen und Tieren, die nicht unbedingt zum klassischen Kanon gehören. Auf der Seite zur Na struze ist es vor allem jene seltsame Kreatur, die sich nicht entscheiden kann, ob sie Fledermaus oder Seepferdchen sein will oder möglicherweise ein (gefährlicher?) Drache.
Und manchmal brach es bei dem Haus doch schon vollumfänglich heraus, das Verlangen Polívkas nach etwas Neuem – eben dem Jugendstil. Man merkt es bei den Gittern des Erker-Balkons, aber vor allem auch bei den Schnitzarbeiten der Haupteingangstür auf der Seite der Vojtěšská . Bei der Türe wird der Jugendstil durch keine ersichtliche Anspielung auf den Barock verfälscht. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sich Polívka vollständig dem neuen Stil zuwenden würde.
Bleibt noch zu erwähnen, dass das Haus, in sich heute auch Büros und Geschäfte befinden, zu Mitte der 1990er Jahre gründlich renoviert und seither gut in Schuss gehalten wurde. Nichts trübt also den Genuss.
Das Haus, dessen Autorenschaft durch Polívka auch erst 1985 in einer Untersuchung durch den Architektur- und Kunsthistoriker Rudolf Pošva definitiv zugeschrieben wurde, wurde nie so berühmt wie andere Werke von ihm, die einen reineren Jugendstil repräsentierten. Weniger hübsch und ansprechend macht dies das Gebäude nicht. Es gehört zu den Geheimtipps für Kenner unter den Polívka-Fans. (DD)
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