- Hans Weber
- November 1, 2024
Nein zum Moskauer Protokoll
Er war zweifellos einer der großen Helden des Prager Frühlings von 1968: František Kriegel, an den uns diese Gedenktafel erinnert. Aber er war auch umstritten, weil er in früheren Jahren seinen Teil geleistet hatte, die Macht der Kommunisten in der Tschechoslowakei überhaupt zu festigen.
Als die Kommunisten im Februarputsch von 1948 die Macht ergriffen, war der Mediziner Kriegel, der seit den 1930er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei war und für sie am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, stellvertretender Kommandeur des Hauptstabes der Volksmiliz, der bewaffneten paramilitärischen Miliz der Kommunisten, die halfen, jeden wirksamen Protest gegen die nun anstehende Zerstörung der Demokratie zu unterdrücken. Das nahm man ihm später natürlich übel. 1949 brachte ihm das aber den Posten des stellvertretenden Gesundheitsministers ein. Allerdings bekam seine Loyalität zu dem stalinistischen Kurs möglicherweise damals schon einige Risse, als er 1952 während einer Säuberungsaktion (mit deutlichen antisemitischen Untertönen) gefeuert wurde und nunmehr als Werksarzt bei Tatra Smíchov arbeiten musste. 1957 wurde er aber wieder rehabilitiert, bekam viele Auszeichnungen für seine aktive Beteiligung am Putsch von 1948, und durfte wieder in der Gesundheitspolitik mitwirken. In den frühen 1960er Jahren beriet er u.a. die kubanische Regierung. Aber zu jener Zeit wurde er immer skeptischer gegenüber der stalinistischen Ausrichtung, die in der Tschechoslowakei den Tod Stalins noch lange zu überleben schien. Er begann 1964 wieder als Arzt im Krankenhaus zu arbeiten.
Aber: Er schloss sich auch reformerischen Kräften in der Partei an, die von einem demokratischeren „Sozialismus mit menschlichem Anlitz“ träumten, allen voran Alexander Dubček. Und als der im Januar 1968 als Erster Sekretär der Partei die Regierungsmacht übernahm und den Prager Frühling lancierte, war Kriegel einer seiner wichtigen Unterstützer. Der Sicherheitsapparat wurde zurückgeschraubt und die Meinungsfreiheit gesichert. Kriegel unterstützte das und avancierte bald zum Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees (ZK).Und im April wurde er Vorsitzender der Nationalen Front, einer Parteienkoaltion, die eigentlich nur nominell auch nichtkommunistische Parteien beinhaltete, diese aber als Blockparteien unter die Führung der Kommunisten stellte, gleichschaltete und nur benutzte, um einen Anschein von Parteienpluralismus vorzutäuschen. So etwas gab es in vielen Ländern des Ostblocks, etwa in der „DDR„. Kriegel wollte die Front aber nun für Sondierungen nutzen, um über eine mögliche Legalisierung autonomer Parteien zu verhandeln. Sein Gespäche mit den Sozialdemokraten verliefen aber bald im Sande. Und am 20. August waren sowieso alle Träume von einer besseren Zukunft zunichte. Die Panzer des Warschauer Pakts rollten ins Land. Der Prager Frühling wurde mit Gewalt zerschlagen. Nur: Die Besatzer, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, hatten aber ein Problem. Wer sollte denn nun im Lande glaubwürdig, mit der Sowjetunion verbunden, aber einigermaßen noch im Lande verankert, dieses Rollback durchführen? Keiner wollte so recht. Selbst Gustáv Husák, der am Ende die Macht als Neo-Stalinist übernahm, galt damals selbst noch als Reformer und arbeitete erst noch daran, sich ein neues Image zu verpassen, um sich Leonid Breschnew anzubiedern. Schnell dachte man sich eine Lösung aus: Die Reformer des Prager Frühlings hätten gefälligst selbst den „Schlamassel“ zu beseitigen, den sie aus Moskaus Sicht angerichtet hatten. Dazu wurde die gesamte Führung um Dubček vom 23. bis 26. August 1968 nach Moskau „eingeladen“, um dort von Breschnew unter Druck das berüchtigte Moskauer Protokoll zu unterzeichnen, dass den Prager Frühling als rückgängig zu machenden Fehler brandmarkte, die beschränkte Souveränität der sozialistischen „Bruderländer gegenüber der Sowjetunion proklamierte (die sogenannte Breschnew-Doktrin) und die Legitimität einer dauerhaften Besetzung des Landes vertraglich festschrieb.
Alle unterschrieben. Nur einer nicht: František Kriegel. Der weigerte sich standhaft, obwohl er – wie er später schrieb – bedroht wurde und nicht ohne Grund um sein Leben fürchtete. Man ließ ihn zwar leben, aber schon nach wenigen Tagen verlor er seinen Sitz im Zentralkomitee, kurz darauf den Vorsitz bei der Nationalen Front. Er behielt noch seinen Sitz im Parlament und machte dort noch im Herbst 1968 unverdrossen klar, dass er den „Vertrag“ über die Rechtmäßigkeit der Besetzung für nicht rechtmäßig hielt: „Ich weigerte mich, das sogenannte Moskauer Protokoll zu unterzeichnen. Ich habe es abgelehnt, weil ich in diesem Protokoll ein Dokument gesehen habe, das unserer Republik in jeder Hinsicht die Hände gebunden hat. Ich habe mich geweigert, es zu unterzeichnen, weil es in einer Atmosphäre der militärischen Besetzung der Republik unterzeichnet wurde, ohne Rücksprache mit den Verfassungsbehörden und entgegen den Gefühlen der Menschen dieses Landes … Ich habe gegen die Ratifizierung des Vertrags über den Aufenthalt von Truppen auf unserem Territorium …gestimmt…“ Das war in der Tat sehr, sehr mutig. Als im Frühjahr 1969 Husák die Macht übernahm und eine euphemistisch Normalisierung (normalizace) genannte Rückkehr zum alten Repressionsregime einleitete, war Kriegel einer der ersten, die im Herbst 1969 ihr Parlamentsmandat aberkannt bekamen. Schon im Frühjahr war er unehrenhaft aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden. Er wurde ständig von der Staatssicherheit überwacht und seine Stelle am Krankenhaus verlor er ebenfalls. 1970 wurde er in die (niedrige) Rente geschickt. Sein Bruch mit dem Regime wurde immer radikaler. Inwischen wuchs eine neue Generation von Dissidenten heran, die deutlicher auf Distanz zum Regime gingen als es die vergleichsweise milden Reformer des Prager Frühlings. Vor allem der Dramaturg Václav Havel, der 1989 nach dem Fall des Kommunismus erster demokratischer Präsident werden sollte. Der lancierte am 1. Januar zusammen mit einigen Mitstreitern die Charta 77, deren Einstandsmanifest durch geschickte (geheim betriebene) Vermarktung in der westlichen Presse zum Signal für eine wachsende und ernstzunehmende Bewegung gegen das Regime wurde. Und Kriegel gehörte zu den ersten Bürgern, die das Dokument unterzeichneten – wozu angesichts der nun einsetzenden Repression gegen die Dissidenten wiederum viel Mut gehörte. Lange konnte er sich nicht mehr für die Charta 77 engagieren. Schon im September 1979 erlitt er einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er im Dezember starb.
Keine Frage: Für die Weigerung von 1968, der Besetzung zuzustimmen, und für die Unterzeichnung der Charta 77 wurde ihm stets Respekt entgegengebracht. So wird seit 1987 jährlich der von der Charta 77 Stiftung (Nadace Charty 77), einer tschechischen Menschenrechtsorganisation, die vor 1989 noch im Untergrund arbeitete, ein Menschenrechtspreis verliehen, der nach ihm benannt ist, der František–Kriegel–Preis (Cena Františka Kriegla). Und es gibt die hier vorgestellte kleine metallene Gedenktafel mit Portrait neben dem Eingang zu dem vierstöckigen Wohn- und Bürohaus in der Škrétova 44/6 in Prag 2. Das Gebäude war in kommunistischen Zeiten das Hauptquartier jener Nationalen Front, die Kriegel lange Zeit geleitet hatte. Nach dem Ende des Kommunismus wurde das Haus 1992 der Sitz des Rates für Hörfunk und Fernsehen (Rada pro rozhlasové a televizní vysílání), der staatlichen Behörde für die Aufsicht und die Regulierung von Radio und TV. Deren Mitarbeiter beschlossen 2008, eine Sammlung durchzuführen (auf eigene Kosten) und die hier vorgestellte einfache Plakette anzubringen, deren Text übersetzt lautet: „Dr. med. František Kriegel, der Vorsitzende des Zentralkomitees der Nationalen Front, weigerte sich im August 1968 in Moskau, der Besetzung zuzustimmen.“ Und es gibt noch eine andere kleine Gedenktafel, die sich im Stadtteil Krč (Prag 4) neben dem Eingang des Gebäudes A4 des Thomayer-Fakultätskrankenhauses (Fakultní Thomayerova nemocnice) befindet, die vermerkt, dass er hier von 1966 bis 1969 (als ihn auch hier die Kommunisten abservierten) als Arzt arbeitete, sich aber seltsamerweise jedes Kommentars über die politische Seite seines Wirkens enthält. Wir sehen die Tafel im Bild oberhalb rechts.
Aber ganz unumstritten war er dann doch nicht. Im August 2014 gab es eine Debatte im Rat des Stadtbezirks 2, in dem sich die ehemalige Wirkungsstätte Kriegels, die Nationale Front, befand, und wo er auch privat wohnte. Es ging um einen Antrag, ihm postum die Ehrenbürgerschaft des Bezirks zu verleihen. Die Debatte verlief heftig. Es ging dabei um seine kommunistische Vergangenheit. Nun waren die Helden des Prager Frühlings von 1968 ja allesamt (wenngleich reformerische) Kommunisten gewesen, allen voran Alexander Dubček, der schon 1939 der Partei beigetreten war. Aber seine Rolle bei der Führung der Volksmiliz – einem eindeutigen Repressionsapparat der Kommunisten – beim Putsch von 1948 ließ Kriegels Vergangenheit in besonders schlechtem Licht dastehen. Andererseits hatte keiner der anderen Anführer des Prager Frühlings, die heute noch hohes Ansehen genießen, das Ausmaß an Mut gegenüber den Sowjets aufgebracht, das er gezeigt hatte, als er sich dem Moskauer Protokoll widersetzte. Und dann war da noch die tapfere Unterzeichnung der Charta 77. Am Ende mag die Erklärung gegen Kriegels Ehrenbürgerschaft durch die einflussreiche Konföderation der politischen Gefangenen (Konfederace politických vězňů), die übrigens auch einmal für kurze Zeit im Haus in der Škrétova 44/6 residiert hatte, und in der sich Opfer des Regimes zusammenfinden, den Ausschlag gegeben haben. Ganz knapp mit einer Stimme lehnte der Rat die Ehrenbürgerschaft ab.
Zu einer postumen Ehrung kam er dann aber doch im nächsten Jahr. 2015 verlieh ihm Präsident Miloš Zeman den Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden 1. Klasse – die höchstmögliche staatliche Auszeichnung des Landes. Das war möglicherweise eine kluge Entscheidung, vielleicht gerade weil František Kriegels Wirken nicht gradlinig verlief und auch irgendwie die Wirren des Zeiten des Totalitarismus widerspiegelte, in denen sich doch so viele Menschen verirrten.Der Mut und die Integrität, die er 1968 aufbrachte, sollte jedenfalls nicht ohne Honorierung bleiben – und genau das ist die Botschaft, die uns die kleine Tafel am Haus in der Škrétova vermittelt. (DD)
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