- Hans Weber
- December 18, 2024
Ort voller Legenden: Der Friedhof der Irren
Zum heutigen Halloweentag: Nicht wenige Menschen glauben, dass nachts hier gequälte Seelen, die keine Ruhe finden können, unheimlich herumspuken. Er ist ein Ort zum Fürchten, der im Dunkeln bisweilen Satanisten und Okkultisten anzieht oder tagsüber vielleicht einfach Leute, die ein wenig schwermütig über die Düsternis von Leben und Tod nachgrübeln wollen.
Offiziell handelt es sich um den Anstaltsfriedhof Bohnice (Bohnický ústavní hřbitov), aber der Volksmund nennt ihn den Friedhof der Irren (hřbitov bláznů). Das erfasst es nicht vollständig, denn hier wurden mehr dunkle Seiten im Buch der Geschichte beschrieben als man denkt. Es liegen dort nicht nur verstorbene Geisteskranke. Aber tatsächlich ist der Friedhof eng verbunden mit der Psychatrischen Heilanstalt Bohnice (Psychiatrická nemocnice Bohnice). Der Stadtteil Bohnice, der erst 1922 zu Prag eingemeindet wurde, wird heute von riesigen Plattenbausiedlungen dominiert. Damals lag er im Grünen und von der von hügeligen Wäldern umgebenen Landschaft versprach man sich 1905, als man mit dem Bau der Heilanstalt begann, möglicherweise Linderung für psychisch gestörte und leidende Menschen.
Als sie 1909 eingeweiht wurde, genügte die Anstalt modernsten Ansprüchen. Es handelt sich nicht um ein einfaches Klinikgebäude mit Zellen zum Wegsperren kranker Menschen, sondern um eine Art Krankendorf mit großzügigen Grünanlagen, Sportmöglichkeiten und Gartenpavillons für die Patienten. Ab 1932 gab es sogar ein eigenes Theater. Hier sollte den Kranken eine humane und moderne Pflege zuteil werden. Geplant wurde die Anlage von dem Architekten Václav Roštlapil, der schon zuvor eine ähnliche Klinik in Wien gebaut hatte, und der ein Meister des Jugendstils war. Die Bauarbeiten gingen noch bis 1912 weiter. 1911 begann man mit dem Bau der zentralgelegenen Kirche St. Wenzel (Kostel sv. Václava), die wegen des Ersten Weltkriegs erst 1916 fertiggestellt wurde und als eine der perfektesten Jugendstilkirchen Prags gilt. Mit ihrem 55 Meter hohen Turm prägt sie heute noch die Landschaft (Bild rechts).
Heute befinden sich rund 1300 Psychatriepatienten hier in Behandlung. Bei einem Komplex dieser Größe drängte sich die Frage nach dem würdigen Begräbnis verstorbener Patienten förmlich auf, zumal aufgrund der damals noch größeren Stigmatisierung von geistesgestörten Menschen viele von ihnen einsam endeten und ihre letzte Ruhestätte nicht im heimischen Familiengrab fanden. Und so wurde im September 1909 ein zur Klinik gehörender Friedhof eingeweiht. Tief im Wald und etwa 700 Meter südwestlich des Klinikareals entfernt wurde ein rund 2,5 Hektar großes und ummauertes Stück Land für ungefähr 4200 Gräber ausgelegt. In der Folge wurden hier durchschnittlich im Jahr rund 80 verstorbene Patienten beerdigt. Der erste von ihnen war am 24. September 1909 der nur elfjährige František Jankovský, der an einem Hydrocephalus (Wasserkopf) gelitten hatte.
Und immer mehr traurige Begräbnisse fanden im Laufe der Zeit statt, bei denen wir die Tragödie des Leben und des Todes nur noch erahnen können, wie etwa das Grab von Bohumil Majer (Bild rechts), dessen Leben im Jahre 1900 mit nur 16 Jahren endete. Mehr wissen wir nicht. Immerhin sind Namen und Lebensdaten noch auf dem Grabstein erhalten. Bei den meisten der wenigen erhaltenen Steine wurden leider die Namenstafeln durch Vandalismus entfernt und zerstört. Die allermeisten Gräber haben nicht einmal mehr einen Grabstein und die Gräberreihen lassen sich nur noch als mit Efeu überwachsene vage rechteckige Anhöhungen erkennen.
Eine Ausnahme ist das Grab von Marie Tuma Reiter (Bild links), wo noch neben dem Todesdatum im Jahr 1912 die Todesursache erwähnt ist, nämlich Hirnathrophie (Hirnschwund). Nur 29 Jahre wurde sie alt. Ihr Grab wurde vor einigen Jahren aus irgendeinem Grunde besonders zu einem Wallfahrtsort von Parapsychologen, die hier – zum Teil mit allerlei seltsamen elektronischen Geräten (Glaskugeln sind aus der Mode gekommen, man geht auch als Geisterseher mit der Zeit!) – versuchten, mit dem Geist der Verstorbenen Kontakt aufzunehmen und eine Art Séance abzuhalten. Angeblich nahmen die Geräte zu bestimmten Zeiten hier besonders starke Stimmen aus dem Jenseits wahr. Am Grab befinden sich in der Regel mehr Blumen, Kränze und Totenlichter als an anderen Orten des Friedhofs.
Aber es wurden nicht nur die Patienten beerdigt, sondern auch verstorbene Pfleger, Nonnen, Verwaltungsbeamte und sonstiges Personal der Klinik. Dazu kamen immer wieder „klinikfremde“ Menschen. Zu ihnen soll Otýlie Vranská gehört haben, eine Gelegenheitsprostituierte, deren brutal zerstückelte Leiche im September 1933 auf zwei Koffer verteilt in unterschiedlichen Zügen Richtung Slowakei aufgefunden wurde. Der Täter wurde nie gefasst. Es handelte sich um einen der spektakulärsten Mordfälle der Ersten Republik, der später immer wieder zum Thema von Filmen wurde. Offenbar hielt man, wenn man der Geschichte glauben schenkt, den Friedhof der Irren für den richtigen Ort, ihren grausam misshandelten Körper (den die Gerichtsärzte für Fahndungsphotos wieder zusammengenäht hatten) zur ewigen Ruhe zu betten. Wo ihr Grab gewesen sein soll, kann man heute zumindest nicht mehr erkennen, denn ein eventueller Stein, der ihren Namen hätte tragen können, ist schon lange verschwunden. Wenn es denn überhaupt so war, denn es ist oft schwer, bei diesem Friedhof Legenden und Wahrheit auseinanderzuhalten. Andere Gerüchte besagen nämlich, dass nicht sie hier beerdigt worden sei, sondern ihr Mörder – ein Anstaltsinsasse, der auf dem Totenbett die Tat gestanden hatte. Er soll hier 1961 begraben worden sein. Da betrieb die Klinik den stillgelegten Friedhof schon länger nicht mehr. Also auch nur eine von den unzähligen Legenden, die den Friedhof umranken?
Die große Flut von Verstorbenen, die nicht Patienten oder Angestellte der Klinik waren, setzte jedoch mit dem Ersten Weltkrieg ein. 1916 wurden neben dem Gelände italienische Kriegsgefangene festgehalten. Eine Gelbfieberepidemie brach kurz darauf aus, der 48 von ihnen zum Opfer fielen. Sie wurden hier in Sammelgräbern beerdigt. In den 1930er Jahren spendete Italiens Diktator Benito Mussolini mehrere (seit langem wieder verschwundene) Gedenktafeln für sie, die er aus eigener Tasche bezahlt hatte. Die Tafeln wurden 1932 in Anwesenheit des Prager Erzbischofs und des italienischen Botschafters an der Friedhofskapelle angebracht. Nicht nur italienische Soldaten starben hier. Teile der Klinik wurden auch als Lazarett genutzt, um die Verwundeten der eigenen k.u.k.-Armee zu behandeln, von denen unzählige hier ihr Ende fanden und auch beerdigt wurden.
Der verstorbenen Soldaten der eigenen, d.h. österreichischen Armee gedachte man noch während des Krieges durch ein Denkmal. Es ist das größte Mahnmal auf dem ganzen Friedhof (siehe Bild oberhalb links). Bei dem von dem Architekten František Thoř entworfenen Denkmal handelt es sich um einen großen Obelisken, auf dessen Spitze sich ein Kreuz befindet. Unten am Sockel wurde aus bronzenen Buchstaben die lateinische Inschrift Corpora dant tumulo, sed patriae vitam (Sie gaben ihren Körper dem Grabhügel, aber ihr Leben dem Vaterland) angebracht. Da die Buchstaben gestohlen wurden, lässt sich diese Inschrift kaum mehr entziffern, wie man im Bild rechts sehen kann. Aufgestellt wurde der Obelisk schon im Dezember 1917 – also noch vor Ende des Krieges.
Aber am gruseligsten ist die Vorstellung, dass hier dereinst der Mann begraben worden sein sollte, der mit einer einzigen Mordtat das millionenfache Morden des Ersten Weltkriegs überhaupt erst in Gang gesetzt hatte. 1942 soll angeblich die Gestapo bei der Verfolgung einer Widerstandszelle in der Klinik einen ehemaligen Bestatter des Friedhofs verhört haben, der behauptete, dass Gavrilo Princip, der 1914 den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo erschossen hatte, und damit eine Kaskade von Kriegserklärungen ausgelöst hatte, hier auf dem Friedhof der Irren begraben worden sei.
In der Tat war Princip wegen seiner Minderjährigkeit für den Mord am Thronfolger nicht hingerichtet, sondern in der 50 Kilometer nördlich von Prag gelegenen Festung Theresienstadt (die unter den Nazis ein berüchtigtes KZ wurde) inhaftiert worden. Der Bestatter behauptete nun, Princip sei Anfang 1918 wegen einer Hirnschädigung unter dem falschen Namen Karel Chotěšovský (angeblich ein demobilisierter österreichisch-böhmischer Unteroffizier) eingeliefert worden. Schon kurz darauf sei er verstorben und heimlich und natürlich anonym auf dem Friedhof begraben worden. Eine tolle Geschichte!
Dass es so war, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Princip war wohl eindeutig im April 1918 in Theresienstadt an Tuberkulose verstorben. Dort wurde er zunächst anonym auf dem Militärfriedhof begraben, um dann nach einer Exhumierung kurz darauf – ebenfalls anonym – auf dem katholischen Gemeindefriedhof beerdigt zu werden. Ein Offizier namens František Löbl fertigte aber eine Lageskizze an, die nach dem Krieg half, die Grabstätte wieder zu identifizieren. Inzwischen war Princip in Jugoslawien (das irgendwie ihm und dem Krieg seine staatliche Existenz verdankte) zu einer Art Nationalheld geworden.
Die Tschechoslowakei (auch sie wurde Dank Princip und des Krieges unabhängig) grub den toten Attentäter 1920 wieder aus und lieferte ihn in Sarajevo ab, wo man ihm ein regelrechtes Mausoleum auf dem Friedhof errichtete. Die Tatsache, dass er zweimal anonym begraben wurde, bietet natürlich recht vagen, aber verführerischen Stoff für Verschwörungstheorien, aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass eine Überführung von Bohnice nach Sarajevo 1920 unbemerkt geblieben wäre. Das offizielle Narrativ ist schon sehr stimmig. Trotzdem hält sich der Mythos, weshalb am Kreuz in der verfallenen Kapelle immer noch Menschen mit offenkundig recht pan-slawistischer und anti-Habsburger Gesinnung seiner mit handgemachten Gedenkblättern, Blumen und Totenkerzen gedenken, wie man am Bild rechts erkennen kann.
Selbst wenn es wohl nicht stimmt, dass Gavrilo Princip hier für einige Zeit begraben war, ist der bloße Gedanke schon ein wenig gruselig. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es ein wenig ruhiger um den Friedhof. 1951 fand dann das letzte Begräbnis statt, danach wurde er stillgelegt. 1963 übertrug man die Verantwortung für den langsam verfallenden und verwildernden Friedhof, die bisher bei der Anstalt lag, der Städtischen Friedhofsverwaltung Prag. Währenddessen überwucherte der Efeu die Gräber. Ab und an campierten nachts Jugendliche aus der nahen Plattenbausiedlung hier als Mutprobe. Das nahm in den 1980er Jahren zu. Der spukige Ort bildete auch die Kulisse für den berühmten Mozart-Film Amadeus (1984) des tschechisch-amerikanischen Regisseurs Miloš Forman. Für die besonders düstere Szene (im Video ab 1:41 min zu sehen) des Begräbnisses von Mozart hatte sich der Regisseur kaum einen besseren Ort aussuchen können.
Ende der 1980er nahm der Strom der abenteuerlustigen Jugendlichen, Geisterseher, Esoteriker und Satanisten geradezu überhand. Die meisten Grabsteine waren nach und nach zerstört. Vor allem die aus Eisen hergestellten Kreuze (die man im Film Amadeus noch gut erkennen kann), die meist aus Kostengründen (Steinmetze sind teuer!) die Gräberfelder schmückten, landeten anscheinend beim Altmetallhändler und wurden dort wohl einegschmolzen. 1989 setzten Vandalen die schöne Friedhofskapelle (man sieht sie im großen Bild oben) in Brand, von der seither nur noch Ruinen übrig sind. Das Areal wurde zugleich immer mehr zur Müllkippe. Aber der Brand in der Kapelle war aber auch ein Weckruf. Die Polizei ging nun härter gegen Satanisten,Vandalen, Spiritisten und andere Eindringlinge vor. Der Rat von Prag 8 schloss den Friedhof und veranstaltete mit Freiwilligen eine Aufräumaktion, bei der rund 35 Tonnen Müll und Schutt entsorgt und der Efeu beträchtlich zurückgestutzt wurde. Die Mauer wurde renoviert. Es kehrte ein wenig Ruhe ein und auch die paar Wagemutigen, die trotzdem nachts über die Mauern kletterten, um die Spukatmosphäre zu genießen, richteten außer der Hinterlassung von Totenlichtern vergleichsweise wenig Schaden an.
Es geht das Gerücht um, dass 1996 die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher (die „Eiserne Lady“) hier am Rande eines offiziellen Besuchs halt machte. Angeblich ging es um das Grab eines Vorfahren ihres Ehemannes Denis, der hier im Ersten Weltkrieg begraben wurde. Ein Ortskundiger soll tatsächlich das Grab gefunden haben und die sterblichen Überreste sollen samt ebenfalls gefundener militärischer Auszeichnungen heimlich nach Großbritannien geschafft worden sein. Es ist mit so wie mit vielen Dingen, die mit dem Friedhof der Irren zu tun haben. Man weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist oder nicht. Eher wohl nicht. Aber egal: Auch das macht diesen Ort zu einem besonderen Ort. Einem Ort, der mysteriöser ist als alle anderen Orte Prags.
Ein Grund, diesen Ort einmal zu besuchen. Die Stadtverwaltung Prag 8 hat den Friedhof 2022 wieder tagsüber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Man kann ihn nun nur über den Haupteingang an der Straße U Drahaně betreten. Die kleineren Nebeneingänge, die das Ganze unübersichtlich machen würden, bleiben geschlossen. Die Stadt bietet auch in unregelmäßigen Abständen Führungen an. Und der Besuch an diesem interessanten und schauerlichen Ort ist die kleine Reise an den Rand der Stadt, dort wo die Geister spuken sollen, auf jeden Fall. Warum nicht am heutigen Halloweenstag? (DD)
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