Republik Žižkov: Die Hochburg des Masopust

Zum heutigen Ruusemondach: Der Stadtteil Žižkov gilt in Prag als das, was Köln in Deutschland ist: Die Karnevalshochburg. Der Karneval heißt in Tschechien Masopust (wir berichteten darüber bereits hierhier und hier), was so viel bedeutet wie „Fleisch weglassen“. Wie überall hat der Karneval seine katholischen Wurzeln als letzte Gelegenheit zum carnivoren Schlemmen vor der Fastenzeit.

Dass ausgerechnet Žižkov sich zur Hochburg des närrischen Treibens entwickelt hat, mag überraschen. Die ältesten Überlieferungen von wilden Masopustfesten stammen aus der Zeit des Königs Vladislav II. um 1500. Die fanden im mittelalterlichen Stadtkern der Kleinseite (Malá Strana) unterhalb der Burg statt. Žižkov gab es da noch gar nicht. Denn Žižkov das waren früher ein paar Häuser auf dem Land vor der Stadt. Im 19. Jahrhundert kam die Industrialisierung und hier entstanden Fabriken und Arbeiterviertel. Erst 1876 wurde daraus eine eigenständige Stadt (die erst 1922 zu Prag eingemeindet wurde). Vielleicht liefert die Person des ersten Bürgermeister, der die Eigenständigkeit energisch betrieben hatte, eine Erklärung für das viel später einsetzende Masopusttreiben. Denn Karel Hartig, ein Bauunternehmer, war ein begeisterter tschechischer Nationalist mit progressiv-radikalen Neigungen. Und Hartig hatte sich ganz dem hussitischen Nationalerbe verschrieben. Das fing bereits beim Namen der Stadt an.

Schon 1869 hatte Hartig noch als Stadtrat in Vinohrady (wozu das Ganze damals noch gehörte) diesen Teil nach dem großen hussitischen Heerführer Jan Žižka benennen lassen, der hier auf dem Vítkovberg im Jahre 1420 einen seiner ersten großen Siege gegen die Truppen des Kaisers Sigismund errungen hatte. Der Name Žižkov war somit eine nur mäßig kaschierte Kampfansage an das Habsburgische Kaisertum. Um der Sache Nachdruck zu verleihen, startete Hartig eine äußerlich sicher karnevalesk anmutende Aktion. Er organisierte ein riesiges hussitisches Volkslager auf dem Vítkovberg, zu dem tausende Menschen – haupsächlich die Industriearbeiter der Umgebung – kamen. Das Ganze begann auch lustig mit viel Bier und Brezeln, lief dann aber aus dem Ruder, sodass die Obrigkeit eingriff und Hartig sogar für 10 Tage inhaftiert wurde. Das hatte vielleicht schon etwas Karnevalistisches, wenngleich das Ganze für Hartig möglicherweise eine recht ernstgemeinte Angelegenheit war.

Fazit: Wie der kölsche Karneval, der bei seiner großen Wiedergeburt 1823 ebenfalls eher ein Protest gegen die preußische Besatzung und Bevormundung, denn eine katholische Brauchtumspflege war, so könnte der Geist des Masopust in Žižkov ebenfalls dem Geist der Aufmüpfigkeit gegen die österreichsich-habsburgische Obrigkeit entsprungen sein. Jedenfalls ist es kein Zufall, dass bis heute sich in Žižkov ein starkes Gefühl von Autonomie und Distanz zu denen „da oben“ gehalten hat. Man selbst versteht sich heute deshalb als Freie Republik Žižkov (Svobodná republika Žižkov) und nicht als ein Stück Prag. Genauso, wie ein richtiger Kölner sich eigentlich kaum damit abfinden kann, von der Landeshauptstadt Düsseldorf aus regiert zu werden. Die Idee einer Freien Republik Žižkov stammt angeblich vom Erfinder des guten Soldaten Švejk, dem Schriftsteller Jaroslav Hašek, der hier wohnte und auch ein Denkmal bekommen hat. Auf jeden Fall ist man sich hier seiner Weltbedeutung als selbständiges Gemeinwesen bewusst, denn jeder Republikbürger weiß, dass die Freie Republik Žižkov mit 57.300 Einwohnern in Sachen Bevölkerung immerhin auf Platz 208 der Welt liegt – noch vor Großmächten wie Grönland, den Färöern, Monaco oder Gibraltar . Flächenmäßig liegt es auf Platz 231, was bedeutet, dass immerhin noch Monaco und der Vatikan kleiner sind. Aus dem sich daraus ergebenden Selbstbewusstsein speist sich vielleicht der Hang der Žižkover zum Karnevalistischen.

Trotzdem kann man natürlich nicht wegdiskutieren, dass der Masopust in Žižkov keine mittelalterlichen Wurzeln hat – und sei es nur, weil es damals Žižkov überhaupt noch nicht gab. Als eher neue Industriestadt im sowieso recht säkularen Böhmen war in Žižkov auch kein besonders ausgeprägter Katholizismus am Werke.Es gab daher ursprünglich wohl überhaupt keine irgendwie nennenswerte Masopusttradition. Masopust war sowieso für die meisten böhmischen Tschechen eher ein Brauch aus dem wesentlich katholischeren Mähren. Und dann kamen 1948 die Kommunisten an die Macht, die hinter ausgelassenen Straßenfesten grundsätzlich den Klassenfeind vermuteten. Was irgendwo an Karnevalstreiben existierte, wurde fast allerorten auf Eis gelegt oder streng auf Linientreue kontrolliert. Das dauerte bis zur Samtenen Revolution 1989, eine lange Zeit der Repression, die die von Natur aus aufmüpfigen Žižkover wohl so unter Druck setzte, dass es 1993 aus ihnen auf einmal herausplatzte. In diesem Jahr wurde nämlich der erste Masopustumzug im Stadttteil (bzw. in der Republik) organisiert. Es war ein wahrer Befreiungsakt. Denn er war das erste Großereignis dieser Art in Prag seit dem Fall des Kommunismus. Andere Stadtteile zogen viel später nach – die Kleinseite, wo doch König Vladislav II. den Spaß begonnen hatte, zum Beispiel erst 2006 (dann aber zugegebenrmaßen mit Wucht).

Neben kleinen Events, die privat abgefeiert werden, gibt es jedes Jahr am Karnevalssamstag (der Samstag vor Rosenmontag) den großen Umzug mit Open-Air-Feier. Das Ganze findet hauptsächlich auf dem größten Platz von Žižkov statt, dem Náměstí Jiřího z Poděbrad (dt. Georg-von-Podiebrad-Platz). Dort gibt es schon ab morgens Stimmungsmusik live, Kinderspielattraktionen (mit Schnitzeljagden und Schminktischen u.v.a.) und natürlich viel Bier zum Trinken. Dafür braute früher die lokale Vinohradský Pivovar (Vinohrady Brauerei, über die wir hier schon berichteten) ein eigenes Masopustní pivo (Karnevalsbier). Dieses Jahr klappte das wohl nicht (eine Folge der Covid-Maßnahmen der letzten Jahre, die den Brauereien schwer zusetzten?). Stattdessen schenkte die kleine Familienbrauerei U Vacků aus  Chlumec nad Cidlinou ihr überaus wohlschmeckendes Bier aus. Das kam gut an. denn wer viel Trinken will, muss auch gut Essen.

Den Masopust in Tschechien verbindet man immer mit der Tradition des Zabijačka, zu Deutsch: Schlachtfest. Überall werden Fleischwaren in jeder Form und Größe verkauft (Bild oberhalb links)! So soll es sein (wenngleich an den Fressständen mittlerweile bei der Auswahl vereinzelt Konzessionen an Nicht-Carnivoren gemacht werden)! Auf jeden Fall war das Bier an diesem Stand schon Stunden vor Ende weggetrunken. Im Bild oberhalb rechts sieht man unter dem Zapfhahn das letzte, was noch rauskam, plus ein halbes Dutzend von Flaschen. Gottlob gab es noch andere Getränkestände….

Und am Nachmittag kommt dann der Höhepunkt. Der beginnt nicht einmal einen Kilometer entfernt in der Čajkovského 2422/12, genauer: vor dem Atrium, einem kleinen Kulturzentrum, das sich in der ehemaligen Kirche der Heiligkreuzerhöhung (kostel Povýšení sv. Kříže) befindet. Hier auf dem Vorplatz wurde auch schon die ganze Zeit ordentlich gefeiert und, wie man heute salopp sagt, vorgeglüht. So gegen 16.30 stellt sich dann ein durchaus stattlicher (nicht nach Kölner Maßstäben, aber nach tschechischen) Masopustumzug auf. Der marschiert dann Richtung Náměstí Jiřího z Poděbrad, wo ja bereits auch gute Stimmung herrscht.

Da das Rathaus von Prag 3 (wozu Žižkov gehört) nicht auf dem Wege liegt, muss der gute kölsche Brauch, dass die Narren das Rathaus stürmen und vom Bürgermeister die Herausgabe der Stadtschlüssel zu verlangen, um damit die närrische Herrschaft zu übernehmen, ein wenig modifiziert werden. Hier muss der der Bürgermeister zu den Narren kommen und nicht umgekehrt. Das Ganze geschieht auf der Tribüne mitten auf dem Platz.

An dieser Stelle sollte man den Bürgermeister des Stadtteils Prag 3 einmal gebührend würdigen. Michal Vronský von der liberalkonservativen Partei Top 09 ist ein waschechter Karnevalist, von dem selbst rheinische Metropolen nur träumen können. Er marschiert – ohne, dass die meisten Leute ahnten, dass das der Bürgermeister ist – vom Atrium mitten in den Menge einfach mit. Er hatte ohne jeden Zweifel das originellste Kostüm. Er hatte sich als das Wahrzeichen des Stadtteils, den brutalistischen Fernsehturm Žižkov (Žižkovská televizní věž, wir berichteten hier) verkleidet. Die tolle Konstruktion wurde wohl hauptsächlich von seiner Frau in Heimarbeit selbstgebastelt.

Ein paar Worte zum Umzug selbst. Für tschechische Verhältnisse ist der schon recht groß. Es laufen mehrere tausende Leute mit, aber es ist nicht so vereinsmäßig durchorganisiert wie in den rheinischen Metropolen. Vieles hängt von der spontanen Stimmung ab, ob hier geschmückte Fahrzeuge oder große Stockpuppen mitmarschieren. Dieses Jahr war das hier etwas weniger der Fall als bei der größten Karnevalskonkurrenz auf der Kleinseite. Aber alles ist dafür irgendwie anarchischer und unvorhersehbarer. So wie Köln das Dreigestirn (Prinz, Jungfrau, Bauer) hat, so verfügt auch der tschechische Masopust über ein gewisses Repertoire an tradierten Identifikationspersönlichkeiten, die lokal durchaus variieren.

Hier in der Republik ist da etwa die Narrenfigur des Pepík aus Žižkov (žižkovský Pepík), der die Schlüssel vom Bürgermeister. entgegennimmt. Sein Part wird seit einiger Zeit von dem Schauspieler Petr Stolař übernommen. Begleitet wird Pepik immer vom Tod (Smrt), häufig – aber diesmal nicht – auch von einer Katze, einem Bären und einer Stute. Auch der Tod hatte ein kreativ selbstgebasteltes Kostüm – das Skelett wurde mit weißer Farbe auf auf einen schwarzen Trainingsanzug gemalt (Bild oberhalb rechts).

Ja, so weit wie in Köln ist man noch nicht, wo während der närrischen Tage die Kostümierten mehrheitlich das Stadtbild prägen. Die meisten, die sich hier versammeln, sind wenig oder gar nicht verkleidet. Dafür sind die dann doch Kostümierten dann besonders kreativ. Es gibt keine Vereinsuniformen, sondern selbst die Prominenz – man denke an Bürgermeister Vronský – muss sich selbst etwas ausdenken, um die Mengen zu überraschen. Erstaunlich ist daher die hohe Zahl von echten und selbstgemachten Kostümen bei den einfachen Teilnehmern, die zum Teil richtig originell und witzig sind. Sie zeigen, wieviel Begeisterung und Herzblut darin steckt.

Und keiner regt sich über kulturelle Aneignung auf, wenn einmal jemand im Indianerkostüm auftaucht, was in Deutschland selbst im frohsinnigen Rheinland zunehmend zum Problem wird – so als ob zum Karneval nicht eine gewisse Derbheit gehört. Die Tschechen sind halt eher tolerant statt woke. Das gute alte kölsche Levve und levve losse haben die Žižkover jedenfalls noch gut drauf. Ja, obwohl in Prag erst in den letzten Jahren so richtig im Kommen, hat der Masopust/Karneval angefangen, richtig Fuß zu fassen, seit die Jecken hier in der Freien Republik Žižkov 1993 als erste anfingen, die Tradition wieder aufleben zu lassen. Man ist auch als eingewanderter Rheinländer gespannt, wie das weitergeht. Und was für ein Kostüm der Bürgermeister nächstes Jahr trägt. (DD)

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