- Hans Weber
- November 1, 2024
Schräge Brücke
Sie ist in jeder Hinsicht eine schräge Brücke, die Eisenbahnbrücke Holešovice (Holešovický železniční most). Denn sie führt nicht in kürzester Linie (dem rechten Winkel) über die Moldau und hat auch noch eine deutliche Steigung.
Wer etwa mit dem Zug von Berlin nach Prag kommt, wird unweigerlich über sie hinweg fahren, denn sie verbindet unter anderem den ersten Prager Zwischenhalt auf der Strecke, den Bahnhof Holešovice, mit dem Hauptbahnhof (wir berichteten hier). Sie ist historisch gesehen die fünfte Eisenbahnbrücke, die in Prag über die Moldau führt. Die erste war das etwas nördlich der Altstadt gelegene Negrelli-Viadukt (1850), gefolgt von der ersten Vyšehrad-Brücke (1872), die 1901 durch eine neue, zweite Brücke ersetzt wurde, die heute noch existiert. Die Nummer vier wurde dann die Braník Brücke (1955), über die wir hier berichteten. Die Eisenbahnbrücken, die nicht über die Moldau führen, sind nicht mitgezählt (ein besonders schönes Beispiel stellten wir hier vor).
Sie ist kein Touristenmagnet und sicher auch eine der weniger bekannten Brücken. Dafür beeindruckt sie durch ihre Maße. Rund 387,5 Meter lang ist sie, wobei der größte Teil davon am Ufer von Holešovice über Land führt. Dabei ist sie in fünf identisch gebaute Segmente aufgeteilt, die auf V-förmigen Pfeilerkonstruktionen ruhen. Alles ist roher Beton und Stahl, so wie es in der Zeit ihrer Errichtung 1975/76 üblich war. Brutalismus nannte man den damals nicht nur in kommunistischen Ländern verbreiteten Stil, der lange Zeit als Scheußlichkeit verpönt war, aber heute immer mehr Anhänger findet. Und man muss auch zugeben, dass die großen Pfeiler der Brücke aus der Nähe betrachtet recht kolossal und überwältigend wirken. Ohne die Sprayereien, die hier leider hinterlassen wurden, würde das Ganze noch eindrücklicher wirken.
Ja, und dann ist das die Aufwärtsneigung der Brücke, die von Holešovice 45 Grad oder 0,55 Prozent beträgt. Wie man das berechnet, weiß ich auch nicht, aber hier findet man eine Anleitung. Aber auf jeden Fall scheint es relativ steil für eine solche Brücke zu sein. Der Weg aufwärts führt direkt zu einem Tunnel, der sich unter einer über dem Ufer emporragenden Felsformation namens Bílá skála (Weißer Felsen) im gegenüber liegenden Ortsteil Libeň) öffnet. Und mit diesem Tunnel sind wir schon bei der nächsten Sache, die an der Brücke schräge ist.
Die Eisenbahnbrücke ist die einzige in Prag, die den Fluss nicht senkrecht, sondern quert. Der Brückenkopf von Holešovice (linkes Ufer) befindet sich deutlich sichtbar weiter stromabwärts als der rechte Brückenkopf (Ufer von Libeň). Das sollte aber keineswegs eine bloße Spielrei sein, sondern hatte handfeste Gründe.
Man hatte anscheinend beim Bau der Brücke von den Fehlern des Bau der Braník Brücke zwischen 1948 bis 1955 gelernt. Die führt auch in einen gegenüber liegenden Tunnel, der dann eine Kurve im Berg machen sollte, damit die Strecke am Ende wieder parallel zum Ufer des Flusses verlaufen konnte. Weil die Brücke senkrecht auf den Fels zulief, hatte man die Kurve sehr eng gestaltet und am Ende war das Ganze nur ein- statt zweispurig befahrbar und das auch nur mit kleinen Zügen. Eine kostspielige technische Panne, die es nun natürlich zu vermeiden galt Bei einem schräg einfahrenden Tunnel ließ sich das ohne allzu viel Aufwand (der sich beim Graben eines zwangsläufig viel weiteren Bogens ergeben hätte) verhindern. Und so ist der Eisenbahntunnel unter den Bilá Skála (Železniční tunel pod Bílou skálou) mit seinen 331 Metern Länge, der in den Jahren 1967 bis 1974 vob der damals noch staatlichen (seit 1992 privatisierten) Konstruktionsfirma Sudop Praha gebaut wurde, bis heute tadellos und ohne Kapazitätsprobleme für den anfallenden Zugverkehr geeignet.
Auf beiden Ufern kann man jeweils auf einem kleinen Wanderweg unter der Brücke hinweggehen, die sich nur wenige hundert Meter flussaufwärts der Brücke der Barrikaden (Most Barikádníků) von 1980 befindet, und über die wir bereits hier berichteten. Auf dem Ufer von Holešovice stößt man dabei, wie man im Bild rechts sieht, auf überwucherte Relikte der Zeit, als es die Brücke noch nicht gab, dafür aber die Bahn am Ufer entlang Richtung Innenstadt fuhr.
Noch eine Bemerkung zur Technik. Die großen, vorgefertigten Komponenten der Brücke konnten so zusammengefügt werden, dass für die Fertigstellung der Flussverkehr nicht gesperrt werden musste. Ende 1975 konnte man bei der Brücke schon Belastungstests durchführen, die sie perfekt bestand. Der talentierte Architekt, der die Brücke für die damals staatliche Firma Stavby silnic a železnic (Verkehrs- und Eisenbahnbau) entworfen hatte, erlebte es nicht mehr, wie die Brücke im Dezember 1976 für den Verkehr freigegeben wurde. Vilém Možíš starb schon Ende 1975 – bevor die Züge über seine Brücke rollten. (DD)
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