Stephansdach aus Düsseldorf

Wenig erinnert daran, dass Prags Stadtteil Libeň dereinst eine der Wiegen der tschechischen Industrialisierung war. Unter dem Kommunismus zur Unwirtschaftlichkeit herabgesunken, wurden fast alle Fabrikareale am Moldauufer nach dem Ende der Planwirtschaft abgerissen. Seit einigen Jahren schießen moderne und schicke Büro- und Wohnkomplexe dort aus dem Boden. Nur wenige Erinnerungen an die große Zeit blieben als Kulturdenkmäler erhalten. Dazu gehört die Halle der früheren Firma Horák und Hlava (hala býv. firmy Horák a Hlava). Die war einmal so modern, dass sie selbst heute im Ensemble der Büroneubauten nicht als altes Kulturdenkmal auffällt.

Die Maschinenbau- und Reparaturwerkstatt Horák a Hlava wurde im Jahr 1920 von dem Automobilimporteur Karel Hlava und dem Ingenieur F. Horák gegründet. In diesem Jahr wurde wohl auch die große Industriehalle in der heutigen Voctářova 3651/1 bzw 3651/2 erbaut. Drumherum befanden sich andere Firmen in diesem Stadttteil, etwa die Textilfirma Brüder Perutz (erwähnten wir hier) und das unmittelbar benachbarte Sägewerk der Eisenbahnfirma des Großindustriellen Karl Adalbert von Lanna (wir berichteten u.a. über ihn hier). Die Firma Horák a Hlava wurde von 1938 und 1943 jeweils noch einmal um Zusatzbauten erweitert, was Archive im ersten Fall durch Luftaufnahmen und im zweiten Fall durch erhaltene Pläne herausgefunden haben. Davon ist aber heute nichts mehr erhalten. Während des Zweiten Weltkriegs zwangen die Nazis den zuvor völlig zivilen Betrieb in die Rüstungsproduktion. Und drei Jahre nach dem Krieg war Schluss. Die Kommunisten hatten die Macht ergriffen und die Verstaatlichungen setzten ein. Horák a Hlava wurde 1948 in den bereits verstaatlichten Maschinenbaugroßkonzern ČKD eingegliedert.

1964 plante man die Halle als Busreparaturwerkstatt für die Prager Verkehrsbetrieben zu nutzen, was aber am Ende nicht realisiert wurde. Das Gebäude verfiel und wurde nicht mehr als Produktionsstätte genutzt. Immerhin erklärte man es 1981 zum geschützten Denkmal. Viel änderte da aber auch nicht mehr. In der Zeit nach dem Ende des Kommunismus 1989 setzte in den nunmehr unrentablen Industriearealen weiterer Verfall ein. Das große Hochwasser von 2002 zerstörteoder beschädigte Teile der Fabriken und auch der Wohnhäuser. 2013 gab es einen Plan der Stadt, hier ein völlig neues Büro- und Wohnzentrum der Luxusklasse aufzubauen. Die alten Gebäude verschawanden alle? Nein, die Halle der Firma Horák a Hala wollte man verschonen. Es wurde das Architekturbüro Aulík Fišer architekti 2016 damit beauftragt einen Umbau- und Renovierungsplan für eine post-industielle Neunutzung zu entwickeln. Heute befinden sich hier Büros,Veranstaltungsräume und vor allem ein großes Bistro-Restaurant, das wohl viele Mitarbeiter der umliegenden neuen Büros zum Mittagessen nutzen.

Aber warum hielt man das im Grundriss 83 x 21 Meter große Gebäude für so schützenswert? Nun, es handelt sich um ein Stück Industriearchitektur, das sehr typisch ist für die Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik ist. Das betrifft vor allem die Dachkonstruktion, die dem Backsteingebäude aufgesetzt wurde. Es handelt sich um ein sogenanntes Stephandach, das von der 1905 in Düsseldorf gegründeten »Gesellschaft für Ausführung freitragender Dachkonstruktionen in Holz – System Stephan GmbH« entwickelt wurde, die seit 1914 auch eine Filiale in Prag betrieb. 1916 wurde diese Art von Dachkonstruktion (dazu hier S. 16), die zunächst für den Bau von Luftschiffhallen entwickelt worden war, in Kakanien mit einem Patent versehen, das in der Tschechoslowakei nach 1918 natürlich noch gültig war.

Hauptmerkmal der Konstruktion des Stephan-Daches waren bei der Halle von Horák a Hlava die dreizehn gewölbten Dachstühle aus Holz, die fachwerkartig aus Dreiecksmodulen zusammengesetzt wurden, die dann oben Glasfenster rahmten. Das Ganze war wesentlich preisgünstiger als die sonst üblichen Stahlträger, dabei leichter und war trotzdem statisch sehr stabil. Die jeweils spitze Dachstuhlkonstruktion erlaubte zudem optimalen Lichteinfall. Das war für die System Stephan GmbH ein Bombengeschäft und die Konstruktion verbreitete sich auch hier unter den Tschechen schnell überall. Es heißt, dass Konstruktionen der Stephansdach-GmbH, 1920 (als diese Halle hier gebaut wurde) über 2 Millionen Quadratmeter Grundfläche in Lande überdeckt haben sollen. Aber es ist der Holzbauweise geschuldet, dass es leider trotzdem fast nirgends mehr erhaltene Exemplare dieses Dachtyps gibt. Die Halle von Horák a Hlava ist eines der ganz wenigen Vorhandenen Exemplare in ganz Tschechien. Eines der letzten anderen Exemplare in Prag, die Halle eines Transportunternehmens in Holešovice wurde im Jahr 2000 abgerissen. Es existiert sonst nur noch eine Autobusgarage in Dejvice (Prag 6) mit einem solchen Dach. Das ursprüngliche Massenprodukt wurde also zur historischen Rarität. Deshalb wurde der Denkmalschutz für das Gebäude von Horák a Hlava während der Planungen für die Umgestaltung des Viertels 2013 noch einmal deutlich verschärft.

Natürlich hat im Lauf der Jahre der Vernachlässigung auch der Zahn der Zeit oder gar des Holzwurms an der alten Struktur genagt. Im Zuge der Neukonstruktion wurde fast jedes Teil durch ein neues ersetzt. Aber im Vergleich zu alten Photos erkennt man, dass die 2020 vollendete Rekonstruktion trotz der Zweckentfremdung doch sehr authentisch und einfühlsam erfolgte. Und heute findet man die recht raffiniert und subtil gestaltete Dachkonstruktion der Firma aus Düsseldorf, die ja eigentlich nur preiswert und funktional sein sollte, sogar ästhetisch ansprechend. Sie hat ihre Modernität bis heute bewahrt. Von außen (anders ging es in den Zeiten des Covid-Lockdowns nicht, als ich dies hier photographierte) sieht das Bistro jedenfalls erfrischend einladend aus. Irgendwann wird man mal darin sitzen und neben Speisen und Getränken ein mittlerweile rares Stück Industriekultur genmießen. (DD)

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