- Hans Weber
- December 18, 2024
Sturzgefahr?
Achtung, Sturzgefahr! Wenn die Pferde jetzt losgaloppieren und die Siegesgöttin Nike nicht sofort die Zügel loslässt, könnte es zu einem ausgesprochen schmerzhaften Unfall kommen. Die wild schnaubenden und sich aufbäumenden Pferde sind nämlich nicht durch eine Deichsel mit dem kleinen Streitwagen verbunden. Die Pferde würden die Göttin einfach an den Zügeln über die „Brüstung“ ziehen und hinter sich her zerren, während der Wagen am Orte stehen bliebe. Zumal die gute Göttin auch noch leicht tänzelnd und somit recht instabil auf einem Bein steht.
Was wir hier im großen Bild sehen, ist eine der zwei weitgehend identisch gestalteten Trigen auf dem obesrsten äußeren Balkon des Nationaltheaters (Národni divadlo) in Prag. Die andere sieht man im Bild links. Die Skulptur der Triga (so nennt man kleine antike Pferdegespanne mit drei Pferden) ist das wohl bekannteste Werk des damals überaus prominenten Bildhauers Bohuslav Schnirch (wir berichteten über ihn u.a. hier, hier, hier hier und hier). Das Nationaltheater wurde damals von patriotischen Tschechen als ein Projekt nationaler Größe durch Spenden finanziert. Als es 1881 eröffnet wurde, hatte sich fast jeder tschechische (nicht deutsch-böhmische!) Künstler von Rang irgendwie daran beteiligt. Das Gebäude war trendsettend. Man spricht sogar in der böhmischen Kunstgeschichte von einer Generation Nationaltheater (Generace Národního divadla), der Architekten wie Antonín Wiehl (wir berichteten u.a. hier) oder Josef Zitek (der Erbauer des Nationaltheaters) oder Maler wie Mikoláš Aleš (u.a. hier und hier) angehörten Und Schnirch war wohl der bedeutendste Bildhauer der Schule.
Der neue Nationalstil. den man pflegte, war die Neorenaissance. Deshalb griff Schnirch hier – ebenso wie bei den umgehenden weiblichen Statuen – auf die griechische antike Mythologie zurück.Die Komposition der Triga wirkt jedenfalls sehr dynamisch. Um so mehr muss man sich über den Leichtsinn der Göttin wundern, sich in ein so unsicheres Gefährt ohne Deichsel zu begeben. Warum Schnirch das so gestaltet hat, kann man aus der Geschichte der Triga erahnen, die durchaus dramatisch ist. Schnirch hatte schon in der Vorbereitungsphase des Baus des Theaters 1873 den Künstlerwettbewerb für die Gestaltung der Trigen gewonnen und bei der Eröffnung waren zwar noch keine fertigen Statuen vorhanden, wohl aber die „Prototypen“, die sich in einem Raum im Dachbereich fanden. Doch kurz nachdem das Nationaltheater 1881 mit Bedřich Smetanas Oper Libuše eröffnet worden war, fiel es einem Großbrand zum Opfer. Schnirch befand sich zufällig gerade in der Nähe und musste von unten mit ansehen, wie dort oben gerade eines seiner Meisterwerke im Feuer dahinschmolz. Er soll geheult haben wie ein Kleinkind.
Es folgte eine Sammlung für den Wiederaufbau des Nationaltheaters für die selbst der Kaiser (sonst kein Freund des tschechischen Nationalismus) einen großen Betrag spendete. Schon 1883 wurde wieder mit Libuše, aber noch ohne die Trigen eröffnet. Aus Geldgründen (das Ganze war ja recht teuer) verschob man deren Erstellung erst einmal. In den Jahren 1888/89 stellte Schnirch Modelle im Viertelmaßstab in der Nationalgalerie (Národni galerie) aus, die beim Publikum gut ankamen. Als Schnirch 1901 einem Schlaganfall erlag, standen die Trigen aber immer noch nicht auf den Theaterdach. Das geschah erst 1911. In dieser Zeit war der sehr akademische Klassizismus des Schnirchen Neorenaissancestils völlig aus der Mode gekommen. Deshalb beauftragte man für eine behutsame Überarbeitung die Bildhauer Emanuel Halman, František Rous und Ladislav Šaloun, der wohl bekannteste von den dreien, dessen Haupwerk das gigantische Denkmal für Jan Hus auf dem Altstädter Ring ist.
Natürlich behielt man viele von Schnirchs Grundideen – vor allem, dass die Gesichtszüge der Niken denen von Schnirchs Frau Julia entsprachen. Aber wir begannen ja beim Thema „Deichsel“. Sieht man sich die allerdings nicht realisierten Vorstudien an, schien Schnirch nicht nur an eine Deichsel, sondern sogar an eine besonders robuste Deichsel gedacht zu haben. Auch das erhaltene Modell der im Brand 1881 verloren gegangenen Ausfertigung zeichnet sich eindeutig durch eine sehr dekorativ geschmückte Deichsel aus. Das entsprach den damaligen akademischen Konventionen. Vergleicht man das etwa (nicht nur) mit der Quadriga (das ist dasselbe wie eine Triga, nur mit vier Pferden) des Brandenburger Tors, dann sieht man, das Deichseln bei solchen Skulpturen eigentlich üblich waren. Die sorgten auch dafür, dass die Pferde recht diszipliniert gradlinig trabten. Und das wiederum entsprach den klassizistischen Vorgaben von Perspektive, Proportion und Linearität, denen sich Schnirch verpflichtet fühlte.
Betrachtet man das mit dem von Halman, Rous und Šaloun 1909 präsentierten Modell, das heute der Nationalgalerie gehört, erkennt man klar, dass die sehr statische Konstruktion des Kunstwerks einer zeitgemäßen und wesentlich dynamischeren Anordnung gewichen ist. Das ist sicher auch dem von Šaloun verfochtenen Symbolismus zuzurechnen, bei dem es mehr um die Weckung der Vorstellungskraft als um Realismus oder die akademische Formalität Schnirchs ging. Die Pferde bäumen sich viel höher auf als ursprünglich geplant und die tänzelnde Siegesgöttin schwenkt ihren Siegeskranz Dank ihrer tänzelnden Bwegung viel triumphalistischer. Da eine Deichsel unterzubringen, hätte die Balance des Streitwagens (der weitgehend blieb, wie er war) merkwürdig verlagert. Es ging um sinnliche Symbolik und nicht mehr um Formalität und Realismus. Ästhetisch hat die Überarbeitung eine wesentlich stärkere Botschaft – aber eben zu Lasten naturgesetzlicher Gegebenheiten. Zudem befreiten die drei Künstler den Schnirchschen Entwurf von jeglicher ornamentaler Überladenheit, durch die sich im o.g. Originalmodell (bei dem sich der Wagen auch technisch korrekt neigt, was man später vermied) gerade die Deichsel auszeichnete.
Von unten ist das allerdings alles sowieso nicht so recht zu erkennen. Man sollte sich also an einem schönen Sommertag ein Ticket für eine Opernaufführung besorgen und in der Pause die 139 Stufen (!) nach oben zum Balkon steigen. Dann kann man die Nike bei ihrer halsbrecherischen Fahrt ohne Deichsel so bewundern, wie man es oben im großen Bild sehen kann. Und immer daran denken, dass es ein Kunstwerk mit eigenen Gesetzmäßigkeiten ist, die nicht immer mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten übereinstimmen müssen. Die die junge göttliche Dame mit dem Gesicht von Frau Schnirch wird ganz bestimmt nicht zu Schaden kommen. (DD)
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