Surreal zwischen Romanik und Funktionalismus

Es liegt direkt am Franz-Kafka-Platz (Náměstí Franze Kafky), gegenüber liegt der Ort, wo Kafka sich gebar und das Ganze heißt auch noch The World of Kafka. Wenn man deshalb nun meint, dass dies ein Museum sei, das Lebensweg und literarisches Schaffen dem Publikum systematisch präsentiert, liegt man aber trotzdem falsch.

Kurz: Man darf es also nicht mit dem auf dem anderen Moldauufer befindlichen Kafka Museum verwechseln, über das wir bereits hier berichteten. Eigentlich sollte man es nicht als Museum im engeren Sinne betrachten, sondern als eine Art Kunstwerk in sich. Und zwar eines, das man am besten über den Künstler selbst versteht, dessen Werk das Ganze ist. Miroslav Joudal war – teilweise noch im kommunistischen Zeiten – Polizeiphotograph. Man kann es ihm glauben, dass er in diesem Beruf viel über die Absurditäten und Sinnlosigkeiten des Lebens erfuhr.

Jedenfalls begann er nach diesem Lebensabschnitt, sich der phantastischen Malerei und der umfassenden Konzeption einer Ausstellung zu widmen, die weniger Kafka, denn kafkaeske und individuelle Gedankengänge in freier Assoziation wachrufen sollte. „Die Ausstellung ist ein Beweis dafür, dass unsere Welt ein ernster und sogar tragischer Ort ist, der aber gleichzeitig nicht an Zügen spezifischer Bildhaftigkeit mangelt, sie ist mit Worten unfassbar, ebenso wie der Raum zwischen den Buchstaben in Franz Kafkas Texten“, sagte Joudal kurz vor der Eröffnung. Man nähert sich Kafka somit eher indirekt.

Die sich über zwei Etagen in einem Keller erstreckende Ausstellung folgt keiner erkennbaren inhaltlich logischen Struktur. Das hätte ja auch der Grundintention widersprochen. Reale Ausstellungstücke, die meist in Käfigen präsentiert sind, zeigen Fragmente von Lebensabschnitten, etwa alte Puppen oder Kinderwägen. Oder es gibt Einblicke in Episoden der Zeitgeschichte, etwa in Form eines Arbeitstisches aus der Staatssicherheit (StB), den man links sieht. Dazwischen gibt es Infotafeln, die mal nur ein wenig über Kafka selbst oder etwas mehr über das Gebäude, in dem sich das Ganze befindet, aufklären. Es gibt viele Sitzmöglichkeiten, die dazu einladen, in Ruhe über die letztlich nie wirklich zusammenhängenden Dinge zu reflektieren und auf sich wirken zu lassen. So hat es sich der Künstler gedacht.

Ein wesentlicher Teil der Ausstellungen sind vor allem die Videoinstallationen. Kurze Filme und/oder Bildfolgen auf großen Bildschirmen verfolgen den Zuschauer an jeder Seite in den Haupträumen. Auch sie vermischen selbstgedrehte absurde Szenen, Biographisches und zeitgeschichtliche Themen, die auffallend häufig die kommunistische Zeit zum Inhalt haben, wie etwa die Bildabfolgen zu Jan Palach im Bild rechts, jenem Studenten der sich im Januar 1969 in Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings selbst verbrannt hatte (wir berichteten u.a. hier). Irgendwie ist das naheliegend, denn nirgendwo dürfte man so vergeblich versucht haben, ein richtiges Leben im falschen zu führen wie im Kommunismus, um – sicher gegen seine Überzeugungen – den sonst von mir eher selten zitierten Theodor Adorno zu paraphrasieren. Kafka hätte jedenfalls viele literarische Motive gefunden, hätte er damals noch gelebt.

Und dann sind da noch Joudals Bilder, die allesamt in einem engen Gang nebeneinander aufgehängt sind. Sie sind stark vom Surrealismus geprägt, ein Kunststil, der vielleicht dem Kafkaschen Denken am nächsten kam. Rund zwanzig Jahre soll Joudal an dem Projekt gearbeitet haben. Er konnte gerade noch erleben, wie 2018 die Ausstellung im Gebäude am Náměstí Franze Kafky 16/1 eröffnet wurde. Kurz darauf verstarb er plötzlich. Wie er es für die Ausstellung erdacht hatte, war auch seine letzte Ruhestätte – gelinde gesagt – surreal und unkonventionell. Er ließ sich einäschern und seine Urne im Keller der Ausstellung auf einer romanischen Säule aufstellen, damit sie von den Besuchern begutachtet werden kann. Man sieht es im großen Bild oben. Des Künstlers Geist wacht also immer noch irgendwie über seinem Museum, aus dem er nie wirklich verschwunden ist. Man kann das durchaus als kafkaeske Idee betrachten.

Die romanische Säule leitet irgendwie zu dem architektonischen Rahmen des Ganzen über, der die Surrealität und den Nichtzusammenhang der Ausstellung zu unterstreichen scheint. Die ins nichts führende moderne, aber von alten Mauern umrahmteTreppe, an der man plötzlich vorbeigeht, zeigt, das die Geschichte des Gebäudes tiefe Brüche aufweist. Von außen scheint es ein modernes Gebäude zu sein. Es ist der in den Jahren 1926 bis 1928 nach Plänen der Architekten Vladimír Ježek und Oktáv Koutský erbaute Ergänzungsbau des 1911 eröffneten Neuen Rathauses, (Nová radnice). Als solches ist es ein recht typisches Beispiel für den Prager Funktionalismus der Zeit der späten Ersten Republik. Die im Keller befindliche Ausstellung löst diese stilistische Klarheit auf. Als das Gebäude gebaut wurde, stieß man (nicht überraschend in der Altstadt!) auf die Reste eines mittelalterlichen Bauwerks, das nun einer eingehenden archäologischen Untersuchung unterzogen wurde, deren Ergebnisse der Dombaumeister Kamil Hilbert (über den wir u.a. hier und hier berichtet haben) und der Kunsthistoriker und Museumskurator Karel Chytil 1913 in einer aufwendigen Publikation dokumentierten.

Es handelte sich um das sogenannte Engelskolleg (Andělská kolej), eines der besterhaltenen romanischen Bauwerke der Stadt. Erste schriftliche Erwähnungen lassen sich bis ins Jahr 1383 zurückverfolgen, die dokumentieren, dass es damals in den Besitz des 1366 gegründeten Allerheiligen Stiftskapitels auf der Burg (Kolegiátní kapitula Všech svatých na Hradě pražském) kam. Aber die archäologischen Forschungen ergaben, dass es bereits auf das 12. Jahrhundert datierbar ist. So etwas durfte natürlich nicht durch einen Neubau vernichtet werden. Und so umschließt der Betonbau des Rathauses heute wie eine Art Sarg die Kellergewölbe des romanischen Gebäudes und verschmilzt mit ihm aus absurder Weise – wie die ins Leere führende moderne Treppe.

Eigentlich, so könnte man überspitzt sagen, würde sich ein Besuch dieser alten und gut erhaltenen Gemäuer ohne das sie umgebende Museum lohnen – zumal das Ganze (für diese ja eher assoziative Ausstellung auffallend traditionell museal) auf Infotafeln gut beschrieben ist. Mehr als sonst in mittelalterlichen Kellern in der Altstadt sind hier vor allem noch Zeugnisse romanischer Steinmetzkunst erhalten – und zwar nicht nur der Sockel, auf dem Joudals Urne steht. Tatsächlich handelt es sich um so etwas wie ein ausgewachsenes kleines Lapidarium. Und immer wieder wachsen moderne Betonpfeiler durch die romansiche Skulpturenlandschaft.

Durch das Verschmelzen zweier sehr unterschiedlicher Häuser – dem romanischen und dem funktionalistsichen – ist ein etwas unübersichtliches Labyrinth im Keller entstanden. Zudem gibt es nur sparsame Beleuchtung, was den Effekt von Düsternis verstärkt. Wenn man zwar nicht Kafka wörtlich, aber dessen surreale Welt künstlerisch umsetzen will, muss es ja so sein. Das Gebäude ist ideal. Man wird, wie gesagt, verwirrt sein, wenn man eine stringent arrangierte Ausstellung zu Kafka erwaretet, und sicher geht es vielen Besuchern so an diesem so sehr mit Kafka verbundenen Areal der Altstadt, dass sie enttäuscht sind. Man muss sich halt darauf einlassen, dass es die künstlerische Vision eine anderen Künstlers ist, nämlich Miroslav Joudal, der hier seine eigene Gedankenwelt – im Geiste inpiriert von Kafka – künstlerisch realisierte, und die den Besucher zum eigenen Reflektieren animieren soll. (DD)

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