- Hans Weber
- November 1, 2024
Theater des böhmischen Genies
Ja, so war das mit der Kultur unter dem Kommunismus: Auch sie musste dem großen Plan gehorchen und konsequent der Schaffung des richtigen Klassenbewusstseins dienen. Nur, dass das so mit dem Planen nie so richtig klappte. Das in der Solidarity 1986/53 im Stadtteil Strašnice befindliche Theatergebäude des Strašnické divadlo Solidarita ist so etwas wie ein Denkmal dafür, dass die Sache echt nach hinten losgehen kann. Und dafür kann man nur dankbar sein. Es begann damit, das man zwischen 1948 und 1951 im bisher sehr ländlichen Strašnice (siehe auch hier oder hier) ein großes Wohnbauprojekt, die Siedlung Solidarität (Sídliště Solidarita), realisierte. Die Wohnblöcke waren noch nicht primitive „Platte“, sondern wirken auch heute noch wegen ihres gottlob etwas zurückhaltenderen stalinistischen Zuckerbäckerstils durchaus wohnlich, zumals das Areal durch Grünanlagen aufgelockert ist, wie man im Bild links sieht. Und natürlich gehörte zu dem Projekt auch Kultur im Sinne zur Bewusstseinsbildung der Arbeiter- und Bauernklasse, oder wie immer man es damals auch nannte. Entsprechend wurde in den Jahren 1958 bis 1961 nach den Entwürfen des Architekten Karel Poličanský ein passend Solidarita genanntes Theater gebaut, das umfänglich als Kulturhaus geplant war und auch eine Bücherei und ein Restaurant beinhaltete. Schon bei Betreten wurde man an die zwingende Einheit von Proletariat und Kultur erinnert, denn über dem Eingang prangte (und prangt immer noch) ein Keramikrelief, das einen arbeitenden Techniker, eine realsozialistisch glückliche Familie und eine Harfenspielerin darstellt. Dieses Stück Kunst am Bau war das Werke des Bildhauers Valerián Karoušek, der eigentlich ein durchaus oppositioneller Künstler war und als Bergsteiger Bekanntheit erreichte (1970 ging er bei einer Expedition in die peruanischen Anden für immer verschollen). Das Theater funktionierte zunächst primär als Standort für lokales Amateurschauspiel. Das wurde anders als hier 1967 das Jára-Cimrman-Theater seinen Sitz aufschlug. Das erwähnt man schon Stolz auf der Infotafel vor dem Bau. Cimrman? Jedermann weiß in Tschechien, wer Jára Cimrman war. Bei eine Umfrage, wer der größte Tscheche aller Zeiten gewesen sei, ergab sich 2005, das Cimrman noch vor Größen wie Masaryk, Havel, Karl IV. oder dem Heiligen Wenzel locker die Nummer 1 schaffte. Die Jury akzeptierte dieses Volksverdikt leider mit dem (absurden) Hinweis nicht, das Cimrman angeblich nur eine fiktive Figur sei. Dabei war Cimrman das „böhmische Genie“ des 20. Jahrhunderts – Philosoph, Universalgelehrter, Erfinder, Dramatiker, Dichter, Musiker, Naturwissenschaftler, Gynäkologe, Lehrer, Reformator, Abenteurer, Spitzensportler. Er war der Erfinder der runden Briefmarke und der Antimoskitobrille. Auch den Dreifachhammer, mit dem drei Nägel auf einmal eingeschlagen werden konnten, gäbe es ohne ihn nicht. Dass Edison als Erfinder der Glühbirne gilt, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass Cimrman auf dem Weg zum Patentamt fünf Minuten aufgehalten worden war. Beinahe hätte er den Nordpol entdeckt und natürlich stammen die Pläne des Panamakanals von ihm. Und dennoch kam dem genialen Böhmen nie der Ruhm zu, den er verdient hatte – eine persönliche und tschechische Tragödie. Der Welt wurde Jára Cimrman, der irgendwann um 1914 verschwand, erst 1966 ins Bewusstsein gerufen, und zwar in einer (angeblich) kabarettistischen Sendung der Autoren und Darsteller Zdeněk Svěrák und Ladislav Smoljak. Dort wurde die Geschichte so präsentiert, dass offenbar viele Hörer darin eine Satire auf die stets Plansoll übererfüllende realsozialistische Gesellschaft der Zeit sahen. Das tat der Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil! Als Svěrák und Smoljak 1967 ein eigenes Jára-Cimrman-Theater (Divadlo Járy Cimrmana) in dem bis dato kaum bekannten Theatergebäude in Strašnice aufmachten, war fortan jeder der rund 250 Sitze über Jahre im Voraus ausgebucht. Cimrman wurde zum Nationalmythos. Die absurden Stücke, die – wie Svěrák und Smoljak betonten – aus dem eigenhändigen Nachlass Cimrmans stammten, fanden Ableger in anderen Theatern des Landes. Die latente Subversivität kam den Bürgern, die des Husák-Regimes nach 1968 überdrüssig waren, entgegen. Zwei Jahre vor dem Fall des Kommunismus drehten Svěrák und Smoljak noch den Film Nejistá sezóna (auf Deutsch etwa: Unsichere Saison) von 1987, der sich mit dem Zensurregime der Kommunisten hart auseinandersetzte, und bei dem Cimrman nie namentlich erwähnt wurde, aber immer als ein ominöser „Meister“ durch die Dialoge schwebte. Weite Teile des systemkritischen Films wurden im Theater von Strašnice gedreht, das so – ganz im Gegensatz zum systemkonformen Ursprungsplan – zum Hort des Dissidententums wurde. Allerdings war es damit nach dem Ende des Kommunismus 1989 bald vorbei, denn 1992 zog das Cimrman Theater in ein anderes Gebäude im Stadtteil Žižkov um. Es wurde etwas ruhiger um das Strašnicer Theater, das 1996 eingehend renoviert wurde (u.a. wurde das Flachdach in ein immer noch recht flaches Walmdach umgewandelt) und auch nicht mehr den Beinamen Solidarita trägt, den heute nur noch das Restaurant führt. Mehrere Theatergruppen haben es seither als Stammsitz verwendet. Ab 2004 war es die Gruppe Company.cz unter der Leitung der bekannten Schauspielerin Eva Bergerová und im Jahr 2013 kam das X10-Theater, das aber seit September 2017 hauptsächlich in neuen Räumlichkeiten im Zentrum von Prag (Neustadt) residiert. Seit 2018 ist es wiederum Bühne für das Divadlo Radka Brzobohatého, ein Theater, das von dem auch aus dem Fernsehen bekannten (und namensgebenden) Schauspieler Radoslav Brzobohatý zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Hana Gregorová, gegründet wurde, die das Theater seit dem Tod ihres Mannes mit der Produzentin Ála Šebková betreibt. Das Theater unterhält mit Klassikern und Komödien und ist immer noch gut besucht. Dass es mal zum Zwecke kommunistischer Bewusstseinsbildung gegründet wurde, hat man sowieso schon lange nicht mehr bemerken können. (DD)
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