„Tschechiens EU-Beitritt führte zur Normalisierung der deutsch-tschechischen Beziehungen”

Am 1. Mai ist Tschechien seit 20 Jahren Mitglied der Europäischen Union. Mit dem Politikwissenschaftler Vladimír Handl von der Karls-Universität haben wir über die Herausforderungen im Zuge des tschechischen Beitritts, über aktuelle Probleme und die Zukunft Tschechiens in der EU gesprochen. Auch das deutsch-tschechische Verhältnis war dabei Thema.

LE: In diesem Jahr feiern wir die 20-jährige Mitgliedschaft von Tschechien in der Europäischen Union (EU). Welche Rolle nimmt Tschechien heute in der EU ein? 

Die tschechische Politik steht grundsätzlich im Mainstream der Europäischen Union, obwohl es vereinzelt Bedenken gibt, insbesondere bezüglich einiger Schlüsselprojekte wie beispielsweise dem Green Deal. Aber davon abgesehen positioniert sich Tschechien als kooperatives Mitglied innerhalb der EU. Während der Lissabon-Vertragsanpassung im Jahr 2007 zeigten wir uns zusammen mit anderen Ländern kritisch, doch seither sind wir merklich in die Mitte des politischen Spektrums gerückt. Selbst der ehemalige Premierminister Andrej Babiš (ANO) und seine Regierung haben eine kooperative Haltung gezeigt.

Was die öffentliche Meinung betrifft, gehört Tschechien zu den kritischsten und skeptischsten EU-Mitgliedstaaten. Diese Haltung hat sicherlich mehrere Ursachen. Eine davon ist eine gewisse Skepsis gegenüber der Obrigkeit. Dies geht schon zurück auf die österreich-ungarische Monarchie und natürlich auch auf den Sozialismus. Man hat sich immer wie von oben gesteuert gefühlt, ohne eine eigene Möglichkeit, die Dinge zu gestalten. Auf diese erlebte Geschichte wird sich heute immer noch dann bezogen, wenn etwas in der EU nicht so gut läuft.

Ein weiterer Grund ist natürlich die Rhetorik von Václav Klaus, der sich immer lautstark gegen die EU und Brüssel ausgesprochen hat, was wiederum die ganze politische Klasse beeinflusst hat. Als dann 2008/2009 die Eurokrise kam, sorgte dies für eine enorme Verunsicherung und ein großer Teil der Tschechen stellte sich die Frage, ob Klaus nicht doch Recht hatte mit seiner Meinung, das EU-Projekt könne nie funktionieren.

Vladimír Handl (*1957) lehrt am Institut für internationale Studien der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität und forscht am Institut für Internationale Beziehungen Prag mit Schwerpunkt auf den deutsch-tschechische Beziehungen. Foto: https://ims.fsv.cuni.cz/

LE: Mit welchen Herausforderungen sah sich Tschechien während des EU-Beitritts konfrontiert? 

Das Leitmotiv, das von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wurde, hieß „Rückkehr nach Europa“. Ich habe damals am Institut für Internationale Beziehungen gearbeitet und wir haben immer kritisiert, dass dies zwar ein richtiger und wichtiger Schritt ist, aber sich keiner wirklich darüber Gedanken macht, was das konkret heißt. Was ist unsere Vorstellung davon? Was sind unsere Ziele? Darauf gab es keine richtigen Antworten. Nichtsdestotrotz bestand dieser einigende Konsens darüber, dass wir Mitglied der NATO und EU werden wollen. Dieser Konsens hat uns letztendlich auch gerettet, denn es war ein sehr asymmetrischer Prozess, in dem Tschechien sehr viele Bedingungen und Auflagen erfüllen musste. Aber das ist ja eigentlich auch selbstverständlich. Schließlich wollten wir einem Club beitreten und nicht der Club uns. Innenpolitisch hat dies dazu geführt, dass die beiden damals größten Parteien ODS und ČSSD einen Toleranz-Pakt schlossen. Es entstand also eine große Koalition, die sehr schnell und effektiv gemeinsam daran gearbeitet hat, den EU-Beitritt zu verwirklichen.

Aus außenpolitischer Sicht war ich sehr glücklich über diesen Pakt, denn es hieß, dass die zwei politischen Pole sich geeinigt haben, um schnell den EU-Beitritt bewältigen zu können. Tatsächlich folgte eine sehr schnelle legislative Arbeit, in der die nötigen Gesetze angepasst wurden. Gleichzeitig hatte Tschechien ein sehr gutes Team, das den EU-Beitritt ausgehandelt hat. Sie überzeugten die Regierung, keine große Liste von Ausnahmeregelungen auszuarbeiten, sondern sich auf die wichtigsten Punkte zu beschränken. Natürlich haben wir nicht alle Ansprüche erfüllt, die die EU an uns gestellt hat, aber es war ausreichend für einen Beitritt. Dementsprechend war es ein großer Erfolg.

LE: Hatte der tschechische EU-Beitritt auch positive Auswirkungen auf die deutsch-tschechischen Beziehungen? 

Der Beitritt Tschechiens hat sehr zur Normalisierung der Beziehungen beigetragen. Was zum Beispiel stattgefunden hat, ist eine, so wie ich es immer nenne, Horizontalisierung der diplomatischen Kontakte. Dies bedeutet, dass Beamte nun auf einer Ebene direkt kommunizieren und zusammenarbeiten können und nicht jedes Mal ein Mandat beim jeweils zuständigen Minister beantragen müssen. Eine weitere Folge ist eine Dezentralisierung, was wiederum bedeutet, dass sich die Menschen an Ort und Stelle, wie zum Beispiel in der Grenzregion, austauschen und verbinden können.

Diese Veränderungen haben zu einer deutlichen Entpolitisierung des Verhältnisses geführt. Es geht zunehmend um das praktische Zusammenleben und das gemeinsame Wachstum unserer Regionen. Es hat auch zu einer Entideologisierung geführt. Man hat sich von den nationalistischen Emanzipationsbewegungen getrennt, die man noch im 19. und 20. Jahrhundert verfolgte. Heute gibt es keine Differenzen mehr über den Weg vorwärts, wir sind zu Partnern zusammengewachsen und nicht nur weil wir es so entschieden haben, sondern weil wir zum ersten Mal in der Geschichte eine gemeinsame Vorstellung von Europa und eigentlich auch der Welt teilen. Das ist ein riesiger Erfolg.

Was es jedoch nicht mit sich brachte, ist eine zusätzliche Nähe. Da müsste man sicherlich noch mehr hinein investieren. Wir sind gute Partner, aber in vielen Fragen teilen wir nicht die gleiche Ansicht. Deswegen haben wir 2015 auch den strategischen Dialog gegründet, denn es gibt keine richtige gemeinsame strategische Vorstellung, wohin wir uns entwickeln wollen. Zurzeit sehe ich den strategischen Dialog als sehr erfolgreich an, da wir es so schaffen, Kontakte untereinander zu knüpfen und auch, dass sich die Minister untereinander näherkommen. Aber eine weiterhin noch offene Frage ist, was an gemeinsamen Vorhaben aus dem strategischen Dialog entstehen sollen?

LE: Was müsste aus Ihrer Sicht denn passieren, damit Deutschland und Tschechien als Partner enger zusammenzuwachsen? 

Aktuell zwingt uns die derzeitige geopolitische Lage, insbesondere die Herausforderungen durch Akteure wie Wladimir Putin, unsere Kooperation zu intensivieren. Dies sehe ich als eine Chance für eine engere Zusammenarbeit. Auch die Region Mitteleuropa ist etwas, wo wir uns nahestehen, vor allem jetzt, da die Situation im Visegrad-Bündnis sehr angespannt erscheint. Deutschland ist für Tschechien ein wichtiger Partner und umgekehrt spielt Tschechien für Deutschland in Mitteleuropa eine zentrale Rolle. Aber auch ein möglicher Wahlsieg von Donald Trump in den USA könnte dafür sorgen, dass Deutschland und Tschechien enger zusammenwachsen. Denn sowohl Tschechien als auch Deutschland sind darauf angewiesen, dass das NATO-Bündnis funktioniert. Es sind aus meiner Sicht also insbesondere externe Faktoren, die uns näher zusammenbringen.

Ein weiterer Bereich könnte auch eine verstärkte Zusammenarbeit in der Wissenschaft sein. Ich denke dabei insbesondere an die Atomenergie. In Tschechien nutzen wir weiterhin Atomkraftwerke zur Erzeugung von Energie. Deutschland hat sich von diesem Weg getrennt, hat aber noch sehr viele ausgebildete Wissenschaftler in diesem Bereich. Hier liegt sicherlich das Potenzial einer engeren Kooperation.

LE: Im tschechischen Diskurs hört man häufig, dass sich Tschechien oft nicht als gleichberechtigter Partner in der EU wahrnimmt. Woher kommt dieses Gefühl?

Das Empfinden, Tschechien sei innerhalb der Europäischen Union kein gleichberechtigter Partner, speist sich aus verschiedenen Quellen. Ein wesentlicher Aspekt ist unsere eigene Selbstwahrnehmung. Die Art, wie wir über unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten sprechen, neigt dazu, demoralisierend zu sein. Aber wie bereits angedeutet, der EU-Beitritt war ein sehr asymmetrischer Prozess, der für Tschechien und seine Bevölkerung eine herausfordernde Zeit darstellte.

Ein weiteres Problem war das Fehlen eines nationalen Konsenses über unsere Rolle und Ziele in der EU nach dem Beitritt. Jede Regierung hatte ihre eigenen Vorstellungen, die von Euro-Optimismus bis hin zu Skepsis reichten. Die Fähigkeit, eine kohärente und effektive Europapolitik zu machen, wächst nur langsam. Ein Kernproblem ist zudem, wie die Politiker die Vorteile unserer EU-Mitgliedschaft kommunizieren. Es wird lediglich erwähnt, dass wir Gelder von der EU bekommen, anstatt die umfassenderen politischen und wirtschaftlichen Vorteile hervorzuheben. Tschechien ist eine Exportnation und 60 bis 70 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Hinzu kommt, dass die Europäische Union ein Projekt des Friedens, der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Fortschritts ist, das uns ermöglicht, uns gemeinsam gegenüber globalen Herausforderungen zu behaupten. Dies sollten die ersten Antworten sein und nicht, dass wir Geld von der EU ausgezahlt bekommen. Diese schlechte Kommunikation ist, glaube ich, ein Grund dafür, dass viele Menschen die Meinung vertreten, der Einfluss und die Möglichkeit, sich in der EU zu behaupten, sei nur begrenzt.

LE: Welche Bedeutung spielt die Europawahl in diesem Jahr für Tschechien? 

Die Europawahl ist in diesem Jahr vor allem vor dem Hintergrund des europäischen Konflikts sehr bedeutend und auch, da sich die Welt gerade in eine Richtung verändert, in der eine funktionierende Europäische Union notwendig ist. Hinzu kommt, dass es bereits viele europäische Projekte gibt, von denen wir als Land sehr profitieren.

Ein zentrales Thema, das in der Diskussion über die Europawahl eine größere Rolle spielen sollte, ist die Einbindung der jüngeren Generationen und von Frauen. Die derzeitige politische Klasse in Tschechien – und in vielen Teilen der EU – wird oft als überaltert und wenig ansprechend für jüngere Menschen wahrgenommen. Dieses Bild muss sich dringend wandeln, denn die junge Generation muss ermutigt werden, sich politisch zu engagieren und ein Teil der Entscheidungsfindung zu werden. Die Tatsache, dass nur etwa 23 Prozent der Bevölkerung an den letzten Wahlen teilgenommen haben, ist besorgniserregend. Ich hoffe, dass es in diesem Jahr besser wird.

LE: Wie wird Tschechiens Rolle in der EU in der Zukunft aussehen? 

In der Zukunft sehe ich Tschechien weiterhin in der Mitte des politischen Spektrums positioniert, was durchaus positiv ist, da es Stabilität verspricht. Um jedoch voranzukommen, ist es wichtig, dass wir innovative Projekte initiieren. In der Außenpolitik sehe ich Osteuropa als einen Bereich an, in dem wir eine gewisse Kompetenz und Erfahrung anbieten können. Diese Kompetenz und die Netzwerke, die wir im Laufe der Jahre aufgebaut haben, sollten wir nutzen, um unsere Rolle in Mitteleuropa und Osteuropa zu stärken.

Ein weiteres Thema, bei dem Tschechien eine wichtige Rolle einnehmen kann, ist die Kernenergie. Ich sehe das persönlich eher skeptisch, vor allem wegen der hohen Kosten und der langen Umsetzungszeiten. Trotzdem wird der Ausbau in der EU gemeinsam mit Frankreich und weiteren Ländern vorangetrieben und wir haben die Kompetenz, in diesem Bereich eine zentrale Rolle zu spielen.

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