Viele Namen auf 206 Metern Höhe

Mit seinen beiden erhöhten Eckrisaliten nimmt sich der Bahnhof Prag-Vršovice (Nádraží Praha-Vršovice) wie der archetypische kakanische Vorstadtbahnhof schlechthin aus. Ähnliches kann man andernort oft bewundern – heute als Beweis, dass man damals auch bei routinemäßig erstellten öffentlichen Gebäuden auf ein gefälliges Äüßeres wert legte.

Die Vorgeschichte dieses Bahnhofs begann im Jahre 1866 mit der Gründung der k.k. privilegierten Kaiser Franz Josephs-Bahn durch ein Konsortium, dem prominente österreichische und böhmische Industrielle unter der Führung des Großgrundbesitzers und Diplomaten Johann Adolf II. Fürst zu Schwarzenberg angehörten. Die Bahnlinie verband ab 1868 u.a. zunächst Wien mit dem südböhmischen České Budějovice (Budweis), von wo aus wiederum ab 1870 eine Nebenlinie nach Prag geführt werden sollte. Der erste Bahnhof auf der Strecke in Prag war zunächst ab 1871 der Bahnhof Prag-Hostivař (Nádraží Praha Hostivař ). Seit der Einweihung des rund vier Kilometer stadteinwärts gelegenen Bahnhofs Vršovice im Jahre 1882 war aber für die meisten Züge aus Südböhmen dieser der erste Halt im heutigen Prag (formal eingemeindet wurde die Stadt Vršovice erst 1922).

Allerdings geschah dies alles nicht unter dem heutigen Namen. Denn der Bahnhof wurde immer wieder umbenannt. Ein Grund dafür war, dass der nördliche Teil des Bahnhofsareal ein wenig über die Stadtgrenze von Vršovice hinausragte und somit zur damals selbständigen und auch erst 1922 zu Prag eingegliederten Stadt Nusle gehörte. Auch wenn das schmucke Bahnhofsgebäude klar in Vršovice lag, hatte Nusle bei der Benennung doch die besseren Karten in der Hand – warum auch immer. Folglich hieß der Bahnhof bis 1912 Nusle–Vršovice. Danach gelang es Vršovice anscheinend, nicht nur den Spieß, sondern auch die Namensreihung umzudrehen. Bis 1921 hieß der Bahnhof nun Vršovice–Nusle, was man in Nusle nicht auf sich sitzen lassen wollte. Nun wurde er ganz und gar ohne den Zusatz Vršovice (trotz des hübschen Hauptgebäudes) in Praha-Nusle umgetauft. Erst 1941 konnte sich wieder Vršovice durchsetzen und seit dieser Zeit hieß er ununterbrochen Praha–Vršovice.

Aber auch jenseits der Umbenennungen umwehte den Bahnhof der Atemhauch der Geschichte, wie man so schön sagt. Der Eisenbahnboom neigte sich seit einer Wirtschaftskrise im Jahr 1873 dem Ende entgegen und die zunehmende Menge an Insolvenzen veranlasste den österreichischen Staat 1884 dazu, die staatlichen k.k. Staatsbahnen zu gründen. Nach und nach brachte sie die bisherigen privaten Eisenbahn-Gesellschaften in Staatsbesitz. Die k.k. privilegierte Kaiser Franz Josephs-Bahn gehörte im selben Jahr zu den ersten verstaatlichten Gesellschaften. Und so wurde der Bahnhof Nusle–Vršovice (so hieß er ja damals) zum Staatsbahnhof. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Anschlüsse nach Prag bereits deutlich verbessert. Zwischen dem Bahnhof und dem Hauptbahnhof wurden 1882 weitere Stationen, etwa der Bahnhof von Vinohrady (über ihn berichteten wir hier) eingerichtet. Im Laufe der Zeit kamen noch mehr regionale Verbindungendazu, was den Bahnhof zweifellos aufwertete.

Im Oktober 1918 endete die k.k.-Herrschaft und die Erste Tschechoslowakische Republik wurde ausgrufen. Ein großes Ereignis bahnte sich an, das in keiner Chronik des Bahnhofs fehlen darf. Am 21. Dezember 1918 mittags fuhr in einem Armee-Sonderzug mit 19 Wagons aus Italien kommend der frischgebackene Präsident der neuen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, aus dem Exil nach Prag ein, um sein Amt zu übernehmen. Dabei fuhr er auch durch den Bahnhof Vršovice–Nusle durch, was anscheinend großen Jubel auslöste. Diese Zugfahrt nimmt im Geschichtsverständnis des Landes wohl eine so hohe Stellung ein, dass 2018 zum 100. Jahrestag sogar ein Reenactment der Zugfahrt mit dem bekannten Schauspieler Otakar Brousek, der als Masaryk posierte, stattfand. Gestoppt und eine Rede gehalten hat Masaryk im Bahnhof nicht, aber immerhin fuhr der Zug etwas langsamer, so dass Masaryk sichtbar der versammelten Menschenmenge am Bahnhof zuwinken konnte. So blieb der Moment auch ohne Halt im kulturellen Gedächtnis haften.

Härter wurde die Sache im Mai 1945, wo der Bahnhof tatsächlich eine wichtige strategische Rolle spielete. Am 5. Mai brach der Prager Aufstand (siehe u.a. auch hierhier und hier) gegen die Nazibesatzer aus. Im Bahnhof hatte die in Vršovice agierende militärische Widerstandsorganisation Trávnice (Odbojová organizace Trávnice) im Bahnhof ihre Kommandozentrale aufgeschlagen und sich mit den örtlichen Bahnangestellten und den Arbeitern einer nahegelegenen Fabrik der Elektro- und Haushaltsgerätefirma ETA zusammengetan. Innerhalb kürzester Zeit wurden aus zivilen Beständen improvisiert acht gepanzerte Züge angefertigt, die von hier aus auf verschiedenen Strecken operierten. Man stattet sie mit erbeuteten deutschen Waffen aus. Ergänzend wurde ein Kleinlaster mit einer ebenfalls erbeuteten Schnellfeuer-Flugabwehrkanone ausgestattet. Dies schuf eine recht mobile Einsatztruppe, die den anderen Widerstandskämpfern in diesem Stadtareal substantielle militärische Hilfe leistete. Sie taten ihren Teil dazu, dass die Wehrmacht am 8. Mai in Prag vor den Aufständischen kapitulierte, und nicht, wie die Kommunisten es später darstellten, am 9. Mai vor der Roten Armee. Die Kommunisten verschwiegen daher später die Rolle, die die (bürgerliche) Trávnice-Gruppe bei der Befreiung Prags spielte. Immerhin befindet sich hier heute auf dem Bahnsteig eine Gedenktafel mit den Namen der beim Aufstand gefallenen Bahnangestellten.

Die weitere Geschichte des Bahnhofs ist nicht so dramatisch. Es gab immer wieder Renovierungen und Umbauten. In den 1970er Jahren hätte man beinahe das alte kakanische Hauptgebäude abgerissen, was schade gewesen wäre, aber dann letztlich doch nicht geschah. Stattdessen vergrößerte man den zugehörigen Rangierbahnhof und überdachte die Bahnsteige. Weitere Moderniserungen erfolgten nach der Samtenen Revolution. 2002 brachte man ein automatisches Informationssystem für Fahrgäste an, das über An- und Abfahrten akkustisch und optisch informiert. Im gleichen Jahr wurde das alte Gebäude als Beispiel kakanischer Eisenbahnkultur unter Denkmalschutz gestellt.

Als Folge davon wurde das Gebäude 2007/2008 renoviert, wobei hässliche Anbauten aus kommunistischer Zeit abgerissen wurden. Insgesamt rettete man so viel wie möglich von der ursprünglichen Ästhetik des Baus, wozu die schöne runde Uhr gehört, die man weiter oben sehen kann, aber auch die Fenster des Schalterbereichs (siehe Bild oberhalb rechts) und die links zu sehende Tafel aus kakanischer Zeit, die sowohl in tschechischer als auch deutscher Sprachen den Fahrgast informiert, dass sich der Bahnsteig auf der Höhe von etwas über 206 Meter über dem Meeresspiegel befindet. Welchen Zusatznutzen diese Information für die Fahrgäste erbrachte, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber hübsch sehen die sorgfältig gemachten großen Bronzetafeln schon aus.

Ab 2018 begann man damit, einen vierten Bahnsteig des inzwischen sehr gut an den restlichen ÖPNV (Bus/Straßenbahn) angeschlossenen Bahnhofs bauen. Gleichzeitig wurde ein moderner Fußgängertunnel hin zum bisher etwas abgehängten Nusle gegraben, der sich vor allem wegen seiner natürlichen Helligkeit durchaus beeindruckend ausnimmt. Im Jahre 2021 wurden diese Modernisierungs-Maßnahmen außerhalb des alten Bahnhofsgebäudes abgeschlossen. Der Bahnhof wird nun in jeder Hinsicht – Komfort, Sicherheit und Ästhetik! – seiner mittlerweile gewachsenen Bedeutung als einer der verkehrreichsten Bahnhöfe Prags gerecht. (DD)

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